Vortrag von Birgit Boeser: „Von Kooperation zum kriegerischen Konflikt: Russland und die EU“
Ein spannender Vortrag mit Birgit Boeser zum Thema „Russland und die EU“ fand kürzlich im Rathaus in Memmingen statt.
Memmingen – Die Europa-Union Memmingen und das städtische Europabüro hatten letzte Woche zu einem Vortrag ins Memminger Rathaus geladen. Mit Birgit Boeser, Leiterin der Europäischen Akademie Bayern und Vorsitzende der Gesellschaft der Europahäuser und Europäischen Akademien, konnte eine hochkarätige Referentin gewonnen werden, die kompetent und anschaulich die komplexen Zusammenhänge der aktuellen Beziehungen mit Russland dargestellt hat.
Seit Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine, versucht sich Russland wirtschaftlich anders aufzustellen und Richtung Osten zu orientieren. Gleichzeitig umgeht der Kreml kontinuierlich die Sanktionen der Europäischen Union und intensiviert die hybride Kriegsführung. Viele Staaten in Mittel- und Osteuropa fühlen sich von Russland bedroht. Das wirft zahlreiche Fragen auf, die Birgit Boeser zu antworten versuchte: Wie abhängig sind die EU und Deutschland tatsächlich noch von russischem Öl und Gas? Welche neuen Partner hat Russland? Und was können wir von nördlichen EU-Staaten in Sachen Resilienz lernen?
Alexandra Hartge, Leiterin des Memminger Europabüros, begrüßte die Gäste im Sitzungssaal des Memminger Rathauses. Birgit Boeser stellte die Zuhörerinnen und Zuhörer gleich zu Beginn darauf ein, zu „keinem besonders schönen Thema, aber einem Thema, das uns alle umtreibt“ vorzutragen. Ausgehend vom letzten Gipfeltreffen zwischen der EU und Russland vom Januar 2014, haben sich die Beziehungen massiv verändert. Ein besonderes Augenmerk liege dabei auf den baltischen Staaten, die sich mit einer wachsenden Bedrohung aus Russland konfrontiert sehen. Präsident Wladimir Putin werfe den baltischen Staaten vor, „russische Bürger zu unterdrücken und zu vertreiben“. Ein Narrativ, das auch als Grund für den Überfall auf die Ukraine benutzt wurde.
Auch den NATO-Beitritt Finnlands nehme Russland als Bedrohung wahr, da er als „Angriff auf die russische Sicherheit und die nationalen Interessen Russlands“ gewertet werde. Das habe dazu geführt, dass Russland in den letzten Monaten an der rund 1.340 Kilometer langen Grenze zu Finnland seine militärische Infrastruktur massiv ausbaue. Zudem betreibe Russland eine enorme Aufrüstung, verbunden mit der Drohung, Nuklearwaffen einzusetzen sowie vermehrten Cyberangriffen und Luftraumverletzungen. „Aus Polen und dem Baltikum wird vermehrt die bange Frage gestellt: Ist Russland in ein bis drei Jahren bereit für einen größeren Konflikt mit der NATO?“, stellt Boeser in den Raum. Und stelle das für den Herbst 2025 geplante russischbelarussische Manöver ZAPAD an der Grenze zu Litauen schon den Auftakt für eine Baltikum-Offensive dar?
Auf der anderen Seite sei Russland ein wirtschaftlicher Zwerg, der sehr stark vom Energieexport abhängig sei. In Folge der wirtschaftlichen Sanktionen durch die EU, die zu massiven Einnahmeverlusten geführt haben, hat sich Russland zwischenzeitlich anderweitig orientiert. Daher ist China mittlerweile der wichtigste Handelspartner, zumal China, ebenso wie Indien, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nicht als völkerrechtswidrig verurteile. Indien sei inzwischen der wichtigste Abnehmer für russisches Öl geworden. Aber auch Länder wie Nordkorea oder die Türkei spielten in den Handelsbeziehungen mit Russland eine Rolle.
Boeser ging auf die hybride Kriegsführung Russlands näher ein. Neben klassischen Militäreinsätzen werden dabei Computerangriffe sowie Propaganda in den Medien und sozialen Netzwerken genutzt, um demokratische Gesellschaften zu destabilisieren. In den letzten Monaten sei dies verstärkt zu beobachten gewesen, zum Beispiel durch Cyberangriffe auf westliche Institutionen. „In der Ostsee werden immer mehr Unterseekabel durch Sabotage beschädigt. Russland entsendet zudem eine sogenannte Schattenflotte, also Schiffe, die unter der Fahne von Drittstaaten in der Ostsee operieren, um Sanktionen zu umgehen und Öl zu transportieren“, ergänzte Boeser. Angesichts dieser Situation stelle sich am Ende die Frage: „Wie reagiert die EU auf diese Szenarien und kann sie als Verteidigungsbündnis dienen?“ Dazu seien konkrete Schritte eingeleitet, wie das im März 2025 veröffentlichte White Paper „ReArm Europe“, in dem die EU-Kommission ihren Plan zur Herstellung eines verteidigungsbereiten Europas darlegt. Auch die Umorientierung der deutschen Außenpolitik mit der Stationierung der Litauen-Brigade sei ein wichtiges Zeichen, dass die NATO-Verbündeten zusammenrücken. Nie zuvor sei seit Ende des Kalten Krieges der Zusammenhalt in der Allianz so eng wie jetzt. Auch mit dem vor wenigen Tagen verabschiedeten 17. Sanktionspaket sende die Europäische Union ein weiteres Signal der Entschlossenheit an Russland.
Boeser widmete sich abschließend der Situation an der Nordostflanke der NATO und der Bedrohungsperzeption der baltischen Staaten. „Seit Jahren warnen die baltischen Staaten vor der Bedrohung Russlands und sind in NATO sowie EU Vorkämpfer einer kompromisslosen Politik gegenüber Russland“, so Boeser und weiter: „Der Krieg in der Ukraine wird nur als Auftakt für eine lange Phase des intensiven, auch militärischen Konflikts mit dem Westen gesehen, gerade an der NATO-Nordostflanke.“
Mit der Beantwortung einiger Fragen aus dem Publikum und dem Dank durch Oberbürgermeister Jan Rothenbacher entließ Birgit Boeser ein durchaus nachdenkliches Auditorium, das im Nachgang noch lange in Gesprächen vertieft war.
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