Tränen statt EM-Torjubel: Wie Spatzen-Baby „Piepl“ alles auf den Kopf stellte
Mitfiebern beim Fußball-EM-Auftakt Deutschlands gegen Schottland? Das hatte die Familie unserer Kolumnistin eigentlich vor. Doch dann flatterte „Piepl“ ins Haus – und statt Torjubel gab es Tränen.
Schongau – Eine Menge Emotion ist unserer Familie pünktlich zum Auftakt der Fußball-EM vors Haus geflattert: Ein Spatzenbaby, in etwa so groß wie ein Autoschlüssel, zart befiedert und zuckersüß. Das kleine Häuflein Elend war aus seinem Nest hoch oben unterm Hausgiebel gefallen – fast direkt vor die Haustür. Wie auch zuvor schon seine Geschwister. Die allerdings waren nicht mehr zu retten.
Ganz anders dieses Spatzen-Baby. Es lebte! Erstmal wärmte ich den Babyspatzen in der Hand. Ein kleines, pochendes Federknäuel. Wie war das doch gleich nochmal mit dem Spatzen in der Hand und der Taube auf dem Dach? Mit Letzterer wäre es deutlich einfacher gewesen. Denn: Wie rettet man denn so ein Vogel-Baby? Viele Fragezeichen im Kopf. Begeisterung bei den Kindern. Schnell war ein Name gefunden: „Piepl“ sollte der Babyspatz heißen. Und sollten wir es schaffen, dass er irgendwann die Flügel ausbreitet und glücklich in sein Vogelleben fliegt: Dann sollte er in „Party-Piepl“ umbenannt werden.
Dass das ein langer Weg werden könnte bis zum neuen Namen, war mir längst klar. Und wurde mir am Freitagabend beim Tierarztbesuch noch klarer. Acht Wochen würden dem Kleinen bis zum Flüggewerden noch fehlen. Und was bedeutet das jetzt genau? Füttern von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Im Halbstundentakt. In (unangenehmen) Zahlen: Der Wecker würde von nun an täglich um 5.30 Uhr klingeln. Ich würde „Piepl“ ins Büro mitnehmen müssen. Und so weiter und so fort. Aber wovon ernährt sich so ein Babyspatz jetzt eigentlich? Er holt sich alles aus lebenden Maden, die kurz vor der Fütterung zerlegt werden müssen. Mit vielen Informationen saß ich wieder im Auto auf dem Weg nach Hause. Auf dem Beifahrersitz in ein Tuch gewickelt: unser neues Familienmitglied. „Piepl“.
Nahrungssuche wird zur schwierigen Angelegenheit
Die Straßen waren wie leergefegt. Schließlich saßen alle schon längst vor dem Fernseher. Außer wir. Von Fußballfieber keine Spur. Alles drehte sich nur noch um „Piepl“. Umgehend wurde eine Rettungsaktion eingeleitet. Während die Kinder einen Eimer mit Stroh befüllten, beförderte ich alte Mullwindeln zutage, die ich zuletzt vor vielen Jahren als „Spucktücher“ verwendet hatte, als mir meine Kinder noch regelmäßig nach ihrer Milch-Ration über den Rücken gesabbert hatten. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich damit mal ein Spatzen-Baby versorgen würde: Ich hätte demjenigen den Vogel gezeigt.
„Piepl“ war zwar ein Spatz, aber schnell unser Star. Wir strichen ihm vorsichtig übers Köpfchen, kraulten ihm das Bäuchlein. Die Kinder sammelten Regenwürmer (die „Piepl“ ja gar nicht essen durfte) und alles hätte herrlich sein können. Wäre da nicht das Problem mit den lebenden Maden an einem Freitag-Fußball-EM-Eröffnungsspiel gewesen. Der Nachbar hatte schließlich die zündende Idee, zückte das Handy. Man braucht einfach nur die richtigen Kontakte! Irgendwann hatte er mal gekartelt mit einem, der heute Angelzubehör verkauft. Beschaffungs-Originalität statt Beschaffungs-Kriminalität. Einfach genial!
Keine Viertelstunde später war zumindest das Problem mit den lebenden Maden gelöst. Selten in meinem Leben hatte ich mich so über einen ganzen Haufen ekliger kleiner Mehlwürmer gefreut, die sich geschäftig übereinander und untereinander in einer kleinen, durchsichtigen Plastikbox winden. Mit drei verschiedenen Kosmetikpinzetten machten sich die Nachbarin und ich schließlich daran, die kleinen Futtermaden zu zerkleinern und vorsichtig in „Piepls“ Schnabel zu zu befördern. Und tatsächlich: Er schluckte!
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Und während es aus den anderen Häusern Tor- und Jubelrufe gab, so freuten wir uns wie Bolle darüber, dass „Piepl“ fraß. Die neue Familien-Attraktion zog schließlich mit seinem Schlaf-Eimer in einem Kinderzimmer ein. Als der Wecker am Samstag um 5.30 Uhr klingelte, war die Motivation in Sachen Fütterung erstmal tendenziell gering. Doch was jubelten die Kinder da schon: „Piepl“ piepte! Ganz zart, aber ja: Er piepte. Und er lebte.
In aller Herrgottsfrühe wurden pünktlich zum Sonnenaufgang Maden zerkleinert – irgendwie ein seltsamer Ritus. Unser Spatzenbaby öffnete seinen winzig kleinen, gelben Schnabel freiwillig und schluckte sein Futter. Wegen „Piepl“ hatte ich tatsächlich ein bisschen Pipi in den Augen.
Beseelt von diesem kleinen Erfolg, der mir wie ein Meilenstein erschien, raste ich zum Tierbedarfs-Geschäft. Baby-„Piepl“ sollte ein ordentliches Zuhause, eine Kinderstube mit Stil bekommen. Ich entschied mich schließlich für einen kleinen Brutkasten für Wellensittiche. Mit Panorama-Ausguckloch und Deckel.
Letzte Ruhestätte im Garten
Tatsächlich sollte ich „Piepl“ im Verlauf des Tages mehr wärmend in der Hand halten, als dass er Zeit in seinem neuen Reich verbrachte. Das kleine Würmchen schlief fast nur noch. „Piepl“ wollte nicht mehr fressen. Wir legten den Babyspatzen, der längst unser Herz erobert hatte, in seine Box. Deckten ihn vorsichtig zu. Vielleicht war die Aufregung zu groß, schließlich spürte und hörte man sein kleines Vogelherz schnell und laut schlagen. Am frühen Abend dann wurde es still. Wir hatten „Piepl“ nicht aufgegeben. Er sich schon. Das Mini-Herz: Es hatte aufgehört zu schlagen.
Wir weinten bitterlich. So groß war die Hoffnung gewesen, dieses kleine Leben retten zu können. Wir ließen „Piepl“ eine Nacht in seinem Bettchen. Tags darauf wurde eine Dose seine letzte Ruhestätte. „Damit ihn keiner fressen kann“, schluchzte die kleine Tochter zutiefst berührt.
„Piepl“ schläft jetzt für immer in einer Ecke in unserem Garten. Ein selbstgebasteltes Holzkreuz mit Inschrift soll dort an ihn erinnern. Auch ohne würden wir „Piepl“ nie vergessen. Er hat uns vor Augen geführt, dass auch die vermeintlich unscheinbaren Zaungäste unseres Lebens ihre Spuren hinterlassen.