Inge Bell stellt Landkreis Landsberg Armutszeugnis aus

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Inge Bell stellt Landkreis Landsberg ein Armutszeugnis aus

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Jede siebte Frau ist in Deutschland Opfer sexualisierter Gewalt. Unternehmensberaterin und Dozentin für Diversity und Female Leadership Inge Bell hält dazu am 24. November einen Vortrag in Landsberg. Im Gespräch mit dem KREISBOTEN mahnt sie Beratungsangebote vor Ort an und die Notwendigkeit einer Gleichstellungsbeauftragten. (Symbolfoto) © Oliver Schepp

Landkreis - Der Landkreis hat keine Gleichstellungsbeauftragte. Ein Frauenhaus sucht man vergeblich. Und die Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt soll zukünftig auf Minderjährige begrenzt werden. Gleichstellungsarbeit und Beratung vor Ort ist aber essenziell, sagt Unternehmensberaterin und Dozentin für Diversity und Female Leadership Inge Bell: „Alles, was fern ist, funktioniert nicht.“

Wer glaubt, sexualisierte Gewalt sei in Städten höher, liegt falsch. „Sie ist dort nur sichtbarer“, sagt Bell. „Im ländlichen Bereich ist die soziale Kontrolle sehr hoch. Und dadurch auch die Angst, etwas zu sagen.“ Laut Polizeipräsidium Oberbayern wurden im letzten Jahr im Landkreis zwölf Vergewaltigungen angezeigt, 32 Vorfälle schwerer Körperverletzung von Frauen. Zahlen, die nicht wirklich ein Anhaltspunkt sind, mahnt Bell: „Die Dunkelziffer ist weitaus höher.“ Ein Vergleich mache das deutlich: „Jede achte Frau leidet an Brustkrebs. Und wir alle kennen eine Frau mit Brustkrebs. Aber jede siebte Frau ist von sexualisierter Gewalt betroffen, jede dritte von häuslicher Gewalt – also viel mehr. Und die kennen wir nicht.“

Inge Bell
Dozentin Inge Bell hält am 24. November um 18.30 Uhr im Rosarium der vhs Landsberg ihren Vortrag zum Thema Frauenrechte. © Stefan Baumgarth

Die ehemalige ARD-Auslandsreporterin deckte im Kosovo in den 2000ern die Verwicklung deutscher Soldaten in die Zwangsprostitution auf. Bell arbeitet ehrenamtlich am Institut für Angewandte Kriminalitätsanalyse, aktuell im Bereich Gewalt in der Prostitution. Die 56-Jährige ist Unternehmerin und berät zum Thema Gleichstellung. Ihr Vortrag am 24. November in der vhs Landsberg: „Wer die große Gewalt nicht will, darf die kleine nicht dulden – Frauenrechte bei uns zwischen Fortschritt und Rückschritt“.

Als ‚kleine Gewalt‘ bezeichnet Bell Dinge, die öffentlich gern als „Kavaliersdelikt“ gesehen werden. Mal kurz an den Po fassen, an die Brust. Gibt die Frau Kontra, wird das gern mit Augenrollen quittiert. Durch das Erstarken der rechten Kräfte auch hierzulande sieht Bell einen ‚Hass‘ gegen Gleichstellungsbestrebungen, gegen Themen, die gern als „Frauenkram“ abgetan würden. „Aber das lässt Frauen verstummen.“ Deshalb seien Beratungsstellen wichtig und notwendig.

Unbesetzte Stelle

Dass Bell anlässlich des Tages gegen Gewalt an Frauen (25. November) Landsberg besucht, geht auch auf den Initiativkreis Frauenhaus Landsberg zurück. Mitglied ist auch die in Dießen lebende Frauenärztin Liane Bissinger. Im Landkreis sei der Antrag auf eine Gleichstellungsbeauftragte gestellt, im Dezember 2022 auch genehmigt worden, „und zwar explizit als kommunale Gleichstellungsbeauftragte in Vollzeit“, so Bissinger. Auch der Aufgabenbereich „Gewalt gegen Mädchen und Frauen“ sollte in deren Zuständigkeit liegen. Gefolgt sei jedoch weder eine öffentliche Ausschreibung noch eine Besetzung der Stelle. Bisher habe man nur hausintern ausgeschrieben, bestätigt auch Landratsamts-Sprecher Wolfgang Müller. Die aktuelle Gleichstellungsbeauftragte Anette Fork, seit 2016 im Amt, ist mit vier Wochenstunden nur für das Landratsamt zuständig.

Auch die Themen Frauenhaus und Beratungsstelle sieht Bissinger im Landkreis vernachlässigt. Zum Thema Frauenhaus müsse eine Bedarfsanalyse gemacht werden, denn wie alle Frauenhäuser in Deutschland sei auch das in Augsburg überlastet, die dort vom Landkreis finanzierten Plätze nicht wirklich vorhanden. Die ‚Orientierungswohnung‘ im Landkreis mit Platz für eine Frau mit Kindern sei stets belegt. Für Präventionsarbeit im Bereich sexualisierte Gewalt gebe es keine eigene Stelle, so Bissinger. Die im Gesundheitsamt für Sexualpädagogik Zuständige darf zeitgleich Schwangerschaftsberatung und Suchtprävention abdecken.

Nicht zeitgemäß

Gleichstellungs- und Anti-Gewalt-Politik müsse aber zusammen gedacht werden, sagt bell. „Wenn es keine Gleichstellungsbeauftragte gibt, haben Themen für Gleichstellung keine Lobby. Damit finden Frauen auf kommunaler Ebene nicht statt. Das ist aus der Zeit gefallen.“ In Bayern gebe es nur wenige Landkreise ohne diesen Posten. Dass im Landkreis die Beratungsstelle vorrangig auf Minderjährige begrenzt werden soll (mehr dazu lesen Sie hier), bezeichnet Bell als „absurd“. Natürlich sehe sie die Sachzwänge, die finanziellen Nöte der Kommunen. „Aber das ist ein Armutszeugnis.“

Denn es gehe konkret um Angebote vor Ort. Sonst sei die Hemmschwelle für Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind, zu hoch. Es benötige jemanden, der „von Angesicht zu Angesicht geschult Hilfe und Trost bieten kann. Muss ich erst kilometerweit fahren, mache ich das nicht. Jeder Kilometer zählt hier.“ – ein in Studien bewiesener Fakt. „Gewalt gegen Frauen ist immer noch ein Tabuthema, auch weil es in den besten Familien vorkommt“. Häusliche Gewalt gegenüber anderen, erst recht gegenüber Verwandten zu äußern, „ist mit Scham und Angst besetzt“.

Bayern sei wie alle anderen Bundesländer im Bereich Frauenhäuser massiv unterausgestattet. „Und auch Landsberg ist nicht eine Insel der Seligen.“ Vielerorts müssten Frauen abgewiesen werden. Provisorien wie die Unterkunft bei Verwandten oder Freunden seien meist nur vorübergehend. Gebe es keine Schutzräume, gebe es für diese Frauen keinen Weg aus der häuslichen Gewaltspirale. Und ein weiteres Problem drohe: dass Frauen obdachlos werden. Vor allem, wenn sie Kinder haben, die sie nicht zurücklassen wollen. Denn Frauen mit Kindern könnten nicht in Obdachlosenunterkünften aufgenommen werden.

Aufgabe des Staates

Könnte der Initiativkreis in Landsberg vielleicht ein ‚privates‘ Frauenhaus initiieren? Es gebe autonome Frauenhäuser, ohne staatliche oder kommunale Unterstützung „aber das ist ein extrem mühsamer Weg“, weiß Bell. Und außerdem sei Gewaltschutz die Aufgabe des Staates. Fehle in einer Kommune allerdings der politische Wille für ein Frauenhaus, „ist das ein ja zu Gewalt gegen Frauen.“

INFO: Wenn eine Stelle im öffentlichen Dienst neu besetzt wird oder – wie im obigen Fall – neu geschaffen wird und besetzt werden soll, muss ein Landratsamt diese Stelle nur dann öffentlich ausschreiben, wenn sie mit einem Beamten/einer Beamtin besetzt werden soll. Die im Landratsamt bisher unbesetzte Stelle der Gleichstellungsbeauftragten (m/w/d) soll laut Pressesprecher des Landratsamtes Wolfgang Müller laut Stellenplan mit „einer oder einem Beschäftigten“ besetzt werden, auch „wenn eine Beamtenstelle möglich wäre“.

Es gibt auch die Ansicht, dass auch bei Angestelltenposten im öffentlichen Dienst die „Notwendigkeit einer Ausschreibung“ bestehe – aufgrund Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz, der jedem deutschen Staatsangehörigen „nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung“ den gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt garantiert. Nur durch eine öffentliche Ausschreibung hätten interessierte Personen die Möglichkeit, sich zu bewerben. Das Bundesverwaltungsgericht urteilte 2010 allerdings dagegen: Eine allgemeine Verpflichtung zur öffentlichen Ausschreibung freier Stellen im öffentlichen Dienst gebe es nicht.

Die oben erwähnte interne Ausschreibung sei gerade abgelaufen, informiert Landratsamtssprecher Wolfgang Müller. Es sei darin nicht nach einer/einem Gleichstellungsbeauftragten im Innenverhältnis, also für die Verwaltung, gesucht worden - diese Stelle sei mit Anette Fork bereits besetzt. Die jetzt abgelaufene interne Ausschreibung beziehe sich auf eine kommunale Gleichstellungsstelle.

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