Kommentar von Hugo Müller-Vogg - Bei seiner Neujahrsansprache verpasst Scholz eine wichtige Gelegenheit

Was Olaf Scholz uns an diesem Jahreswechsel zu sagen hatte, lässt sich so zusammenfassen: Die Lage ist ernst, aber alles wird gut. Ach ja: Respekt durfte auch nicht fehlen. Eben typisch Scholz.

Alles andere wäre eine Überraschung gewesen. Dem Bundeskanzler fehlt, was das Land jetzt gerade bräuchte: Die Fähigkeit, von Zuversicht nicht nur zu reden, sondern auch Gründe für einen realistischen Optimismus zu liefern. Unter diesem Aspekt war diese Neujahrsansprache immerhin ehrlich – so wenig inspirierend wie die Politik der Ampel.

Dass der Kanzler auf die widrigen Bedingungen hinweist, unter denen SPD, Grüne und FDP regieren mussten und müssen, ist verständlich. Der russische Überfall auf die Ukraine mit allen wirtschaftlichen und politischen Folgen hätte jeder anderen Regierung ebenfalls das Leben erschwert.

Einen Punkt kann auch der Kanzler nicht „wegscholzen“

Die im Land um sich greifende Unzufriedenheit ist jedoch nicht in erster Linie weltpolitischen Einflüssen geschuldet. Die ist vielmehr auch das Ergebnis rot-grün-gelber Politik. Das Chaos um das Heizungsgesetz war hausgemacht, der viel zu lange, leichtfertige Verzicht auf Grenzkontrollen ebenso.

Scholz rechnet sich den europäischen Asylkompromiss als Erfolg an, auch wenn noch ungewiss ist, wie die neuen Vereinbarungen sich auswirken werden.

Eines ist aber sicher: An den von den Regierungsparteien erst geleugneten und dann sträflich unterschätzten Integrationsproblemen als Folge jahrelanger, ungesteuerter Zuwanderung ändert sich durch eine vielleicht bessere Sicherung der EU-Außengrenzen nichts. Es war also kein Zufall, dass Scholz dieses die Menschen umtreibende Thema nicht einmal erwähnte.

Dass diese Regierung in größten finanziellen Schwierigkeiten steckt, kann nicht einmal der Kanzler „wegscholzen“. Die Chuzpe, mit der er das einfach mit dem „weitreichenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts“ begründete, war schon beachtlich.

Eine Entschuldigung bleibt aus

Zur Erinnerung: Es war Scholz persönlich, der in den Koalitionsverhandlungen 2021 die verfassungswidrige Umwidmung von während der Pandemie nicht benötigten Kreditermächtigungen für andere Zwecke erfand. Jetzt Karlsruhe die Schuld an den Folgen zuzuschieben, grenzt an Frechheit.

Diese Neujahrsansprache wäre eine Gelegenheit gewesen, um sich bei den Bürgern für die misslungenen verfassungswidrigen Haushaltstricks zu entschuldigen. Sich zu entschuldigen kommt für jemanden, der wie Scholz zu Rechthaberei neigt, freilich nicht in Frage.

Die Ampel-Parteien stehen in allen Umfragen so schlecht da, weil sie ständig das Bild einer zerstrittenen Truppe bieten. Kaum eine Entscheidung von Bedeutung, die nicht von heftigem, öffentlich ausgetragenem Streit begleitet wird.

Es gibt Politiker, deren Reden besser sind als ihre Politik – und umgekehrt

Der Kanzler, Großmeister im Abwiegeln, ging darauf kurz ein: Er hätte „auf manch laute Debatte in den vergangenen Wochen und Monaten durchaus verzichten können.“

So spricht einer, der das Geschehen vom Rand aus beobachtet, aber nicht entscheidend prägt. Da fragt sich der Bürger, warum Scholz – formal Chef im Ring – diese „lauten Debatten“ dann nicht verhindert hat?

Ein Regierungschef muss nicht unbedingt ein glänzender Redner oder ein mitreißender Motivator sein. Es gibt Politiker, deren Reden besser sind als ihre Politik – und umgekehrt.

Bei Olaf Scholz ist das anders. Bei ihm stimmen Rhetorik und Regierungshandeln meistens überein – wie bei dieser Neujahrsansprache.