Belastetes Gesundheitssystem - Jeder 5. Deutsche ist zu dick: Jetzt sollen Krankenkassen Abnehmen bezahlen
Marius singt: „Was bin ich froh, dass ich kein Dicker bin, denn Dicksein ist `ne Quälerei.“ Trifft der Song von Müller-Westernhagen ein Lebensgefühl, oder ist er medizinisch indiziert? Darum geht es bei einem sich anbahnenden politischen Streit zwischen der Union auf der einen Seite und den Gesundheitsbehörden mit SPD-Minister Karl Lauterbach an der Spitze auf der anderen. Den Ausgang der Auseinandersetzung verfolgt eine ganze Industrie mit höchstem Interesse, unter ihnen Dutzende von deutschen Startups, für die - je nachdem - eine goldene oder eine durchwachsene Zukunft in Sichtweite ist.
Es geht darum, ob Dicksein eine Krankheit ist und dann die entsprechende Therapie – Abnehmen eben – auf Krankenschein möglich ist. In anderen Ländern wie in den Niederlanden ist das so. In Deutschland, wo nach Einschätzung des Robert Koch Instituts mindestens ein Fünftel der Erwachsenen so viel Speck mit sich herumträgt, dass es schon den medizinischen Fachausdruck Adipositas verdient, wird dagegen die Therapie vom zuständigen Gremium, dem sogenannten Gemeinsamen Bundesausschuss, als „Livestyle“-Entscheidung abgetan. Sie ist damit bislang kein Fall für die Kasse.
Pfunde schwinden, Kurse steigen
Das Thema hat enorm Fahrt aufgenommen, seit Abnehmspritzen wie Wegovy oder Mounjaro den Markt überrollen, den Betroffenen die Kilos nehmen und den Herstellern ein Vermögen bescheren. Patienten spritzen sich das Zeug mit einem Fertigpen, der einem Stift ähnelt, einmal pro Woche unter die Haut. Der Wegovy-Wirkstoff Semaglutid wurde schon seit Längerem bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes eingesetzt – unter dem Handelsnamen Ozempic. Wegovy enthält denselben Wirkstoff in höherer Dosierung und wurde für Menschen mit Adipositas, also Fettleibigkeit zugelassen. Als adipös gilt, wer einen Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 30 erreicht. Hersteller Novo Nordisk ist seit der Markteinführung im Börsenhimmel. Mounjaro enthält den Wirkstoff Tirzepatid, funktioniert ähnlich, stammt vom Pharmariesen Eli Lilly, der damit seinen Aktienkurs um mehr als 50 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten nach oben hievte.
Beiden Wunderspritzen gemeinsam ist, dass sie so wunderbar nicht sind. Ärzte bestätigen zwar, dass 20 Prozent Gewichtsverlust machbar sind, was bei entsprechendem Leibesumfang schnell mehr als 20 Kilo sein können. Aber die Weißkittel warnen auch: Wer die Spritze absetzt, nimmt wieder zu, manchmal wird’s fülliger als vorher.
Milliarden-Markt für Startups
An dieser Stelle kommt eine ganze Welle von Fitness-Startups ins Spiel, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, dein und mein Leben derart gründlich zu vermessen, dass kein Gramm und keine Sekunde dem Zufall überlassen bleibt. Sie reiten den Trend: In engen Sport-Leggings und Muskelshirts besuchten fast 130.000 Menschen im April die globale Fitnessmesse (FIBO) in Köln. Sie kamen, um Gewichte zu heben, in den Boxring zu steigen, bei Live-Workouts mitzumachen, E-Sports zu zocken und die neuesten Produkte von Protein-Cornflakes bis hin zu Trainingsmaschinen zu testen. Influencerinnen Sophia Thiel und Anna Engelschall (Growingannanas) mischten sich unter die Startups, die beim „Future Forum“ die Möglichkeit hatten, ihre Produkte vor Investoren zu pitchen. Den Gründern liegt ein Milliarden-Markt zu Füßen. In Deutschland hat die Fitness-Branche im Jahr 2023 rund 5,4 Milliarden Euro umgesetzt, stellt eine aktuelle Studie der Unternehmensberatung Deloitte fest.
Roger Spaen kennt den Markt genau. Der Holländer hat Loop Care 2019 in Düsseldorf gegründet mit dem Ziel, eine Fitness-App auf den Markt zu bringen, die ihre Nutzer umfangreich darüber informiert, wieviel Salz und Zucker sie gerade zu sich genommen haben, was das mit ihrem Körper macht und wie es sich vielleicht besser machen ließe. Versicherer, Unternehmen, denen die Gesundheit ihrer Mitarbeiter nicht schnurz ist, und natürlich die Betroffenen selbst sind seine Kunden. Ein Team von Psychologen steht im Hintergrund, um im Zweifelsfall persönliche Beratung zu gewährleisten. „Das Ziel ist es, gesund zu sterben“, sagt Spaen. „Vergrauung muss bezahlbar bleiben“. Worauf der Gründer, der selbst bereits einen grauen Bart trägt, anspielt: Die Kosten von Übergewicht und Diabetes übersteigen die der Spritzen und auch der voraussichtlich knapp 400 Euro Jahresabo kostenden Looop-Care-App um ein Vielfaches. 180.000 Euro für übergewichtige Patienten und die Behandlung ihrer Leiden, die von Diabetes bis zu Herzkrankheiten, von Gelenkproblemen bis zum Schlaganfall reichen, sind normal.