Baerbocks Rückzug: Freie Bahn für Habeck

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Sie steht ihm nicht mehr im Weg: Nach Baerbocks Rückzug läuft es auf Habeck hinaus. Er wird für die Grünen ums Kanzleramt kämpfen. Gut stehen die Chancen nicht – aber spannend wird es allemal.

Berlin – Nach monatelangen Debatten kam die De-facto-Entscheidung im Ausschlussverfahren: Konkurrentin Annalena Baerbock erklärte ihren Verzicht, Wirtschaftsminister Robert Habeck wird damit Kanzlerkandidat. Doch warum sollte das einen überhaupt interessieren bei einer Partei, die im Umfragen bei 11 bis 13 Prozent liegt? Man werde den Anspruch auf den Spitzenjob der Regierung erheben, heißt es in der Grünen-Führung.

Sie sind betont optimistisch. Der Grünen-Abgeordnete Sven-Christian Kindler hält stramme 25 Prozent für möglich bei der Bundestagswahl, die regulär im Herbst 2025 stattfindet. Die SPD habe vor der Wahl 2021 doch ähnliche Umfragewerte gehabt, sagte er im Deutschlandfunk. Als die SPD-Parteichefs Olaf Scholz im August 2020 kürten, lag ihre Partei in Umfragen allerdings bei 14 bis 15 Prozent. Derzeit liegt die Partei zwischen 14 und 16 Prozent, die CDU/CSU bei rund 30.

Kanzlerkandidatur: Chancen für Grünen-Kandidat trotz Hürden

Auch Johannes Hillje sagt, das Rennen sei offener, als es aussehe. „Dass die Grünen das Kanzleramt holen, ist aktuell unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.“ 2014 war er Wahlkampfmanager der Grünen im Europawahlkampf. Inzwischen ist Hillje Kommunikationsberater und hat nach eigenen Angaben schon für alle drei Ampel-Parteien gearbeitet, für Unternehmen, Ministerien und Verbände. Es sehe nach einer Auseinandersetzung zwischen Friedrich Merz, Scholz und Habeck aus. Altlasten sieht Hillje bei allen Dreien: „Merz hat die Rhetorik der AfD kopiert, Scholz bleibt blass, Habeck hängen das Heizungsgesetz und die AKW-Entscheidung nach.“ 

Zur Aufstellung eines Kanzlerkandidaten rät er den Grünen so oder so. Die Umfragen seien schwankend, Verbesserung möglich. „Und es wäre unklug, auf die zusätzliche Aufmerksamkeit der Medien zu verzichten, die eine Kanzlerkandidatur bringt, bis hin zur Teilnahme an TV-Debatten.“

Verlorene Wähler zurückholen: Habeck und die neue Strategie der Grünen

Anders als noch im Wahlkampf 2021 treten die Grünen diesmal nicht mit einer gesellschaftlichen Stimmung für mehr Klimaschutz an. Damals kamen sie aus der Opposition, kokettierten mit der Rolle als Hoffnungsträger. Heute wissen Wähler, was grüne Politik heißt – und viele lehnen sie massiv ab. Das Europawahlergebnis von weniger als zwölf Prozent war verheerend. „Habeck muss sich offen zeigen für den Dialog mit Wählergruppen, die die Grünen in den letzten Jahren verloren haben“, glaubt Hillje.

Das gesellschaftliche Top-Thema Migration fassen sie nur mit spitzen Fingern an. Der Wunsch gerade linker Grüner nach mehr Offenheit hat keine Mehrheit, das ist der Partei klar. „Wir können bei dem Thema nicht gewinnen“, heißt es. Aus Sicht Hilljes ein Fehler. „Die Menschen erwarten, dass Migration nach Spielregeln funktioniert, haben aber aktuell nur den Eindruck, dass da zu viel Chaos herrscht in Deutschland und Europa.“ Und: „Die These, dass Problembenennung der AfD in die Karten spielt, ist falsch – Problemignoranz tut das.“

Sommerreise Habeck
Als Kanzlerkandidat muss Robert Habeck neue Wählergruppen für die Grünen gewinnen. (Archivbild) © Sebastian Christoph Gollnow/dpa

Enttäuschendem Europawahlergebnis: Grüne kämpfen um Wählervertrauen

Man muss Habeck nicht mögen, ein Langweiler ist er nicht. „Er stillt den Durst der Gesellschaft nach Orientierung, rhetorisch und intellektuell“, sagt ein Grüner über ihn. Kleinmut, Stillstand, Übervorsicht sind dem Instinkt-Politiker Habeck zuwider, er empfindet sie als Hemmnisse für erfolgreiche Politik. Bei öffentlichen Auftritten spricht er anders als Baerbock stets frei, der Verzicht aufs Manuskript scheint ihm eine Frage der Ehre, vielleicht auch der Eitelkeit. Meistens geht das gut. Aber nicht immer.

Eine offizielle Bewerbung Habecks für die grüne Pole Position im nächsten Bundestagswahlkampf steht noch aus. „Alle weiteren Fragen für Wahlkämpfe werden wir dann organisieren über die Gremien und dann uns rechtzeitig melden“, beschied er Journalisten auf seiner Sommertour in Paderborn. Wer ihm zuschaut, kann allerdings nicht den leisesten Zweifel hegen, dass Habeck will. (Mike Schier)

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