„Zukunft im Pflegebett“ drohte - „Laufe, ohne Boden zu spüren“: Ayleen kann trotz Querschnittslähmung wieder gehen

Erzählen Sie.

Ayleen: Es ging schon damit los, dass beinahe neun Monate vergingen, bis ich in der Reha endlich mit einem angepassten Rollstuhl versorgt wurde. In der Klinik habe ich dann eine Frau gesehen, die Orthesen trug und mit ihnen in den so genannten Gehbarren gestellt wurde. Vielleicht kennen Sie das vom Turnen – in der Physiotherapie wird der Gehbarren gern genutzt, um sicher Steh- und Gehübungen zu machen. Das war natürlich total spannend für mich, weil es in dem Moment einer meiner größten Wünsche war, einfach mal wieder aufrecht zu stehen oder sogar zu gehen.

Doch die Ärzte meinten, ich solle mich die nächsten drei bis vier Jahre erst mal an den Rollstuhl gewöhnen. „Dann kann man noch mal weiterschauen.“ Ein Unding!

Warum?

Ayleen: Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger ist es, eine gelähmte Person wieder ins Stehen und Gehen zu bringen. Bei mir wäre es fast zu spät gewesen. Bis ich meine Orthesen hatte, sind zwei Jahre ins Land gegangen. Eine wilde Zeit.

„Nachdem ich nicht mehr laufen und stehen konnte, war ich kurz davor, sogar nicht mehr sitzen zu können“

Inwiefern „wild“?

Ayleen: Einmal, was meine Gesundheit anging: Mein Zustand verschlechterte sich drastisch, bis ich sogar Schwierigkeiten beim Sitzen hatte. Zuletzt habe es maximal zwei Stunden pro Tag in den Rollstuhl geschafft, den Rest musste ich liegen, unter anderem wegen zahlreicher Knochenmarksödeme …  Nicht lange, nachdem ich nicht mehr laufen oder stehen konnte, war ich also kurz davor, sogar meine Sitzfähigkeit zu verlieren. Das Ganze war natürlich psychisch extrem belastend. Und nun wusste ich: Entweder werde ich mit Orthesen ins Gehen und Stehen mobilisiert – oder ich habe eine Zukunft im Pflegebett.

Wie konnten Sie sich so sicher sein, dass das mit den Orthesen bei Ihnen funktionieren würde?

Ayleen: Ich habe es ausprobiert. Nachdem ich aus der Reha entlassen wurde, war mir klar, dass ich meinen Traum noch nicht aufgebe – ich wollte zuerst alle Möglichkeiten ausschöpfen. Also recherchierte ich selbst. So bin ich unter anderem auf die Firma Ottobock gestoßen, die in diesem Bereich weltweit als die innovativste gilt. Kann man das Verfahren testen? fragte ich mich – und dann die Firma. So kam es, dass ich zu einer der ersten Anwenderinnen weltweit wurde, bei der es um eine beidseitige Versorgung ging.


Wie kann man sich die Kontaktaufnahme zum Hilfsmittelhersteller vorstellen? Haben Sie bei der Firma angerufen?

Ayleen: Nein, das ging sogar über ein Kontaktformular. Das läuft übrigens ganz oft so, dass die Patienten selbst auf die Suche nach Hilfsmitteln gehen müssen. Bei den Ärzten, die mich gesehen haben, gab es nur wenig Wissen über die Technik, niemand hat mich aufs Thema Orthothetik gebracht, immer ging es nur um den Rollstuhl. Als nächstes galt es eine Ärztin oder einen Arzt zu finden, die sich mit dem Hilfsmittel auskennen – oder bereit waren, sich einzulesen, um mir die Orthesen dann zu verordnen. Wenn es um innovative Hilfsmittel geht, ist das oft gar nicht so einfach.

Vor dem Termin beim Hilfsmittel-Hersteller hat Ayleen Angst: Was, wenn es nicht funktioniert?

Erzählen Sie uns von Ihrem Besuch bei der Hilfsmittel-Firma!

Ayleen: Ehrlich gesagt: Vor dem Termin hatte ich richtig Angst…

Warum das?

Ayleen: Naja, letztlich gab es zwei recht wahrscheinliche Szenarien. Das eine: Ich gehe hin, es funktioniert nicht, dann wäre klar: Der Rollstuhl ist und bleibt mein einziges Hilfsmittel. Oder das zweite Szenario: Ich gehe hin, es funktioniert und dann bewilligt die Kasse es nicht. Variante zwei finde ich fast noch schlimmer: Wie ein Esel, dem man eine Karotte vor die Nase hält, aber man lässt sie ihn nicht fressen. Wir dürfen nicht vergessen: Solche innovativen Hilfsmittel sind sehr teuer…

Vor dem Termin waren Sie bestimmt sehr angespannt?

Ayleen: Einerseits, ja, andererseits wusste ich, dass ich danach Klarheit haben würde. Ich wollte alles ausgeschöpft haben, mir später nicht vorwerfen können, etwas unversucht gelassen zu haben. Wenn man weiß, was Sache ist, kann man sich besser arrangieren. Auch mit einem Rollstuhl übrigens. Viele verstehen nicht, wie toll Hilfsmittel sind und wie viel Mobilität und Lebensqualität sie schenken. Als ich plötzlich nicht mehr laufen konnte, habe ich erst wirklich verstanden, wie viel Freiheit mir der Rollstuhl zurückgibt.

Wie war es, die Hightech-Orthesen auszuprobieren?

Ayleen: Die Testorthesen, die man mir beim Test um die Beine geschraubt hat, sahen ganz anders aus als meine Orthesen jetzt. Groß, sperrig. Meine eigenen sind viel leichter und per Gipsabdruck gefertigt worden, sie liegen dadurch wie eine zweite Haut an. Das ist wichtig, damit ich keine Druckstellen bekomme – ich habe ja kein Gefühl mehr im Bein.

Aber auch mit den sperrigen Test-Orthesen hatte ich dieses unglaubliche Erlebnis. Ich bin mit Hilfe aufgestanden, ich stand, konnte mich im Spiegel sehen und nicht glauben, dass ich es bin, die da steht. Ich, allein! Das war wirklich völlig überwältigend. Ohne Übertreibung eines der allerschönsten Gefühle in meinem ganzen Leben! Meine Mutter war dabei. Und das war wohl das Beste von allem: dass wir uns in den Arm nehmen konnten, von Herz zu Herz.

Ayleen: Ich kenne viele Rollstuhlfahrer, die sagen, es ist ein besonderes Gefühl, eine Person im Stehen – Herz zu Herz – zu umarmen und dass es ihnen fehlt. Für mich war das auf einmal wieder möglich.

Nach Erfolgserlebnis folgte die Enttäuschung - „das war fast noch schlimmer als die Querschnittslähmung“

Nach dem Termin waren sie sicher voller Mut und Zuversicht?

Ayleen: Nicht wirklich, leider. Ich habe Versorgungsanträge gestellt, Ablehnungen bekommen, Widersprüche geschrieben. Wie gesagt, zwei Jahre lang. Die medizinischen Gutachten kamen von Leuten, die sich erschreckend wenig mit dem Hilfsmittel auskannten und sich offensichtlich auch sehr wenig mit meiner Krankheitsgeschichte beschäftigt hatten. Mir wurden dann zum Beispiel nicht vergleichbare, günstigere Hilfsmittel vorgeschlagen. Mit etwas Weitblick völlig unverständlich.

Was entgegnen Sie?

Ayleen: Wenn ich all diese Systeme – erfolglos - ausprobiert hätte, wäre es am Ende für die Krankenkasse viel teurer geworden – ohne den Fortschritt, den ich habe. Über einen Arzt ärgere ich mich heute noch besonders. Er hat sich einen Videomitschnitt meines Testtermins bei Ottobock angesehen und gemeint, meine Geh- und Stehversuchen seien zu langsam, daher sehe er keine ausreichende Verbesserung meiner Lebensqualität durch die C-Brace. Das zu lesen, war fast noch schlimmer als die Querschnittslähmung selbst. Von diesem Gutachten hing schließlich meine Zukunft ab.

Was hat Ihnen in dieser schweren Zeit Kraft gegeben?

Ayleen: Meine Familie. Mein wahnsinnig toller Freundeskreis. Und irgendwo gab es trotz der irren psychischen Belastung auch diesen Funken Urvertrauen, dass dieses Leben glücklich sein wird – egal, wie es am Ende aussieht. Als dann Ende 2022 endlich die Bewilligung für die Orthesen kam, habe ich eigentlich schon gar nicht mehr daran geglaubt.

Wie haben Sie von der Bewilligung erfahren?

Ayleen: Mein Handy klingelte, der Orthopädietechniker war dran. Er meinte: „Ich habe eine ganz tolle Nachricht für Sie…“ Ich war gerade mit meinem Bruder unterwegs, hab mich gefühlt wie in einem Film. Ich habe geweint vor Glück. Zum Anfertigen habe ich dann direkt einen Termin bekommen. Und dann ging es auch schon los, das Training.

„Laufen ohne den Boden unter den Füßen zu spüren – das ist eine große Herausforderung“

Was galt es zu lernen beziehungsweise zu trainieren?

Ayleen: Zuerst musste ich das Herz-Kreislauf-System wieder an die Bewegung und die aufrechte Position gewöhnen. Konditionsaufbau war ein Thema, der Umgang mit Schwindel auch. Und ich musste lernen mit dieser sehr speziellen Situation umzugehen: Laufen ohne den Boden unter den Füßen zu spüren. Laufen ohne Gefühl in den Beinen – das ist eine große Herausforderung. Man braucht Vertrauen in das System.

Wer hat Ihnen bei all dem geholfen?

Ayleen: Ich hatte einen fantastischen Physiotherapeuten und wurde eng von meinem Orthopädietechniker betreut. Ohne sie wäre ich nicht so weit gekommen. Anfangs war ich drei- bis viermal in der Woche in der ambulanten Reha, wofür ich jeweils über 400 Kilometer am Tag gefahren bin.

Warum das?

Ayleen: Es gibt noch nicht viele Therapeuten, die auf den Umgang mit Orthesen-Systemen geschult sind. Und vor Ort zu bleiben wäre teurer gewesen als zu pendeln. Zunächst lief die Gehschule begleitet. Am Ende ist im Grunde alles Reha, jede Alltagsbewegung. In der begleiteten Phase bin ich zunächst mit beiden Händen an den Stangen des Barren gelaufen, dann mit einer Hand am Therapeuten. Das Ziel war, dass ich irgendwann am Rollator würde laufen können.

Aber dieses Ziel haben Sie offensichtlich längst übersprungen. Wo genau stehen Sie heute, was können Sie wieder?

Ayleen: Zum Beispiel eine mehrwöchige Reise in die Natur machen, wie im letzten Herbst nach Indien. Ich war dort unter anderem auf Safari. Nicht so wie man es kennt, mit dem Jeep, sondern zu Fuß, mit einem Ranger.

Mit den Orthesen durch einen indischen Dschungel

Klingt ziemlich gewagt.

Ayleen: Ich bin früher viel gereist, aber mit dem Rollstuhl ging vieles nicht mehr. Indien ist ein Land, das ganz schwer mit dem Rollstuhl zu bereisen ist. Aber mit den Orthesen schien es möglich – daher bin ich nach der langen Durststrecke sozusagen aufs Ganze gegangen. Der Trail, den wir gelaufen sind, führte durch den Dschungel. Um zum Startpunkt zu gelangen, musste ich auf ein Floß… eine wackelige Angelegenheit…

Die Sie aber gemeistert haben?

Ayleen: Mit allergrößter Freude! Es war unbeschreiblich, endlich wieder in der Natur sein zu können. Auch heute mache ich an guten Tagen Spaziergänge.

Brauchen Sie den Rollstuhl überhaupt noch?

Ayleen: Der ist mein Back-up, sage ich immer. Ich brauche ihn zur Regeneration und schlechtere Tage, auch in der Wohnung nutze ich ihn. Dank des Hilfsmittelmix habe ich viel mehr Teilhabe. Wenn ich zum Beispiel einen Ausflug mache, brauche ich im Vorfeld nicht aufwendig zu recherchieren, ob es vor Ort Treppen gibt oder eine barrierefreie Toilette.

Generell benutze ich die Orthesen so viel ich kann, oft habe ich beide Hilfsmittel dabei. Es ist toll, die Wahl zu haben, das gibt mir maximale Freiheit. Und ich stelle fest, dass die Menschen mir wieder anders begegnen.

„Die Menschen begegnen mir wieder mehr auf Augenhöhe“

Inwiefern das?

Ayleen: Mehr auf Augenhöhe. Braucht man wirklich Orthesen, um so wahrgenommen zu werden? werde ich manchmal gefragt. Und dann sage ich: Ja, die Lebensrealität ist leider so, Menschen im Rollstuhl werden häufig nicht ernstgenommen. Was mir mittlerweile nicht mehr passiert, ist, dass mit meiner Begleitung über mich hinweggeredet wird. Als wäre ich gar nicht da. Oder dass mir einfach jemand auf den Kopf klopft, wenn er mich anspricht. Das Problem ist natürlich dieser Umgang der Menschen, nie das Hilfsmittel.

Was mir stattdessen sehr oft passiert ist, dass ich Menschen von Herz zu Herz umarme. So wie in diesem magischen Moment mit meiner Mama, als ich nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder gestanden bin.