Von Lindner bis Scholz - Macht macht süchtig: 5 Gründe, warum Spitzenpolitiker ungern zurücktreten
Christian Lindner ist unter Druck, tritt aber nicht zurück. Doch ob Lindner, Olaf Scholz oder Joe Biden – fünf psychologische Effekte halten laut Leadership-Experte Kishor Sridhar Spitzenpolitiker ab, rechtzeitig loszulassen.
Lindner will nicht zurücktreten. Joe Biden hat zu lange an seinem Amt festgehalten, und Olaf Scholz glaubt trotz innerparteilicher Zweifel weiterhin fest daran, die nächste Wahl gewinnen zu können.
Doch warum fällt es Spitzenpolitikern so schwer, den richtigen Zeitpunkt für einen Rücktritt zu finden?
Nach der Enthüllung des sogenannten „D-Day“-Papiers traten sowohl Generalsekretär Bijan Djir-Sarai als auch Bundesgeschäftsführer Carsten Reymann zurück. Doch Christian Lindner distanzierte sich lediglich von dem Papier und betonte, es weder gekannt noch gebilligt zu haben. Dennoch gibt es inzwischen erste Forderungen, dass er als FDP-Chef zurücktreten sollte. Doch ein solcher Schritt fällt nicht leicht.
Spitzenpolitiker stehen hier vor denselben Herausforderungen wie Unternehmensführer, die oft ebenso große Schwierigkeiten haben, loszulassen. Selbst wenn sie zurücktreten, sind sie häufig versucht, durch die Hintertür wieder Einfluss zu gewinnen.
Dabei gibt es fünf zentrale psychologische Effekte, die Spitzenkräfte aus Politik, Wirtschaft und Sport davon abhalten, das Richtige zu tun.
Über den Experten Kishor Sridhar

Kishor Sridhar, Executive Berater, Keynote Speaker und Buchautor, ist anerkannter Experte für Change, Führung und Digitalisierung. Er begleitet deutsche und internationale Entscheider und Führungskräfte operativ in der Unternehmensentwicklung und bei Veränderungsprozessen. In Change-Prozessen bringt er dabei praxisbewährte Erkenntnisse aus seinen Wirtschaftsstudien, wie z.B. „KI in deutschen Unternehmen“ ein und verknüpft diese mit psychologischen Effekten zum „Erfolgsfaktor Mensch“. Kishor Sridhar lehrt an der International School of Management in München u.a. Cross Cultural Leadership und New Work.
Macht als Suchtmittel
Macht wirkt wie eine Droge. Sie aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn und löst Gefühle von Euphorie und Kontrolle aus. Eine prominente Studie von Neuroökonom Paul Zak zeigt, dass Macht die Dopaminrezeptoren im Gehirn stark aktiviert – ähnlich wie bei der Einnahme stimulierender Substanzen. Dieser Effekt führt zu einem Zustand, der einer Sucht vergleichbar ist. Der Verlust der Macht löst bei Führungspersönlichkeiten daher Entzugserscheinungen aus, was den freiwilligen Rücktritt erheblich erschwert.
Identitätsverlust und das „Retirement Syndrome“
Für viele Spitzenpolitiker ist ihre Position ein zentraler Bestandteil ihrer Identität. Der Verlust des Amtes bedeutet für sie häufig auch einen Verlust des Selbst. Der Psychologe Manfred F.R. Kets de Vries beschreibt dieses Phänomen als „Retirement Syndrome“, das mit Ängsten vor dem Verlust von Einfluss, Status und persönlicher Bedeutung einhergeht. Der deutsche Komiker Loriot karikierte diese Problematik brillant in seinem Film Papa ante Portas, in dem ein Manager nach dem plötzlichen Ruhestand nicht mehr weiß, wie er seinen Platz im Leben finden soll.
Die Illusion der Unersetzlichkeit
Viele Spitzenpolitiker glauben, dass ohne sie alles zusammenbricht. Diese Selbstüberschätzung, oft als „CEO Disease“ bezeichnet, verhindert, dass sie Verantwortung abgeben. Helmut Kohl ist ein prominentes Beispiel aus der deutschen Politik, ebenso wie Joe Biden oder Uli Hoeneß im Sport. Sie unterschätzen regelmäßig die Fähigkeiten ihrer potenziellen Nachfolger und klammern sich an ihre Position.
Das „Sunk-Cost-Dilemma“
Ein weiterer Effekt, der den Rücktritt erschwert, ist das sogenannte „Sunk-Cost-Dilemma“. Dieses Phänomen beschreibt die Tendenz, an Entscheidungen oder Projekten festzuhalten, in die bereits erhebliche Ressourcen wie Zeit, Geld oder Prestige investiert wurden – selbst wenn ein Rückzug die bessere Option wäre. Wie der Ökonom Richard Thaler erklärt, fällt es Menschen schwer, Verluste zu akzeptieren, selbst wenn diese unvermeidbar sind. Für Spitzenpolitiker bedeutet dies, dass sie an ihrer Karriere festhalten, um nicht das Gefühl zu haben, all ihre Mühen seien umsonst gewesen.
Angst vor dem Nichts
Nach einem Rücktritt steht oft die Frage im Raum: „Was kommt danach?“ Anders als in der Wirtschaft, wo ein Positionswechsel neue Chancen eröffnet, gibt es für Politiker nach einer Spitzenposition oft keine attraktive Alternative. Ein Wechsel in die Wirtschaft oder in internationale Organisationen ist selten nahtlos möglich, da dort andere Fähigkeiten gefragt sind. Diese Unsicherheit und die Angst vor Bedeutungsverlust lähmen viele.
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Letztlich kommt es auf das Umfeld an
Spitzenpolitiker sind wie Top-Führungskräfte oft isoliert. Enge Vertraute, die ehrlich beraten, fehlen oder werden ignoriert. Besonders Parteikollegen, die oft als Rivalen wahrgenommen werden, können selten als konstruktive Kritiker dienen. Der gesellschaftliche Druck, als unhaltbar zu gelten, kommt häufig zu spät – dann ist nicht nur die Position, sondern auch das Ansehen verloren. Ein rechtzeitiger Rücktritt erfordert ein Umfeld, das ehrlich, aber unterstützend Druck ausübt.
Bei Joe Biden waren es neben Großspendern auch seine Familie, die ihn letztlich zu einer Entscheidung drängten. Gelegentlich kann auch der eigene Körper, wie bei Kevin Kühnert, der Grund für einen Rückzug sein.
Vielleicht wird es für Politiker leichter, wenn wir als Gesellschaft und sie selbst den weisen Satz von Willy Brandt verinnerlichen: „Rücktritte sollten eine Stärke und kein Zeichen der Schwäche sein.“
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