Neue Volkskrankheit alarmiert Bundesregierung
Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
so viele Jahre ist es jetzt schon her, manchmal weiß ich gar nicht mehr, wie viele. Die Tage und Monate vergehen, Dinge passieren, ich bin irgendwie dabei. Aber ein Teil von mir ist ganz woanders. Wenn im Frühling die Knospen blühen oder wenn die Enkelkinder hier sind, spüre ich es nicht so stark, aber wenn dann alle wieder weg sind, wenn ich abends allein im Wohnzimmer sitze oder mitten in der Nacht aufwache, dann ist es besonders schlimm. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es, aber das stimmt nicht. Die Oberfläche vernarbt, aber darunter bleibt der Schnitt in der Seele. Der ist so tief, der geht nie wieder weg. Das Leben war so schön mit ihm, meinem Mann, wir waren füreinander gemacht. Bei anderen Paaren wandelt sich die Beziehung nach Jahren zu Freundschaft oder Desinteresse. Bei uns war es Liebe, immer. Ich komm' einfach nicht darüber hinweg, dass er nicht mehr da ist, so früh, viel zu früh. Der Tod ist ein Monster, und ich bin so allein.
Ja, ich weiß, was du meinst, mir geht es ähnlich. Früher stand ich mitten im Leben, hatte immer viel um die Ohren. Projekte unter Hochdruck haben wir durchgezogen, gemeinsam waren wir stark. Ich habe meine Arbeit geliebt und wurde von den Kollegen geschätzt. Bei einigen war es fast Freundschaft. Dann kamen das Virus und die Lockdowns, das war wie ein Hammer, der mein Leben zerschlug. Am Anfang gab es noch Stütze vom Staat und die Hoffnung, dass es bald wieder losgeht. Ging es aber nicht. Corona hat unsere Branche völlig verändert. Manche sagen: zerstört. Ich habe meinen Arbeitgeber sogar verstanden, als er uns gekündigt hat. Was sollte er denn tun? Die Aussicht auf eine neue Stelle zerschlug sich bald, es herrscht ja überall Krise, und wer stellt schon einen 55-Jährigen ein? Seitdem bin ich viel zu Hause. Die Ex-Kollegen melden sich nicht mehr, jeder hat seine eigenen Sorgen. Jetzt im Winter ist es besonders schlimm. Alles so dunkel und so kalt. Ich bin allein, ich bin so schrecklich allein. Manchmal könnte ich heulen.
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Vielleicht haben Sie es bemerkt, liebe Leser, das war nicht der übliche Herr Harms, der hier zu Ihnen sprach. Aber es sprachen mir bekannte Personen, und ich möchte hinzufügen: Was diese beiden empfinden, erleben hierzulande Millionen Menschen. Einsamkeit ist eine Volkskrankheit, die sich rasant verbreitet. Witwen und Arbeitslose, Verlassene und Mutlose, Jugendliche und vor allem sehr viele Senioren leiden unter dem Alleinsein. Vielen sieht man es nicht an. Viele sieht man überhaupt nicht. Weil sie sich in ihrem Kummer verkriechen, weil sie sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen oder weil sie gemieden werden. Sie sitzen allein zu Hause, sie essen allein ihr Frühstück, ihr Mittag- und ihr Abendessen, und wenn der Tag zu Ende geht und das Telefon hat wieder nicht geläutet, geschweige denn die Haustürklingel, bleiben nur die Kummerfalten im Gesicht oder die Tränen auf dem Kopfkissen.
Die staatlich verordnete Vereinzelung während der Pandemie hat Schlimmes in der Gesellschaft angerichtet. Die gegenwärtigen Krisen machen es noch schlimmer. Viele Leute müssen es sich zweimal überlegen, ob sie sich den Restaurantbesuch noch leisten oder gar jemanden einladen können. Die permanenten Hiobsbotschaften aus den Nachrichten drücken aufs Gemüt, viele verkriechen sich und lassen Mütter, Großväter, Nachbarn allein. Die Menschen werden immer älter, zugleich verlieren Bindungen ihre Kraft. Aus Dörfern und Kleinstädten wandern die Jungen ab, in Großstädten herrscht Anonymität. Teenager haben durch die monatelangen Lockdowns ihre Freunde und den Anschluss verloren. Abgenabelte Schüler hocken nur noch vor dem Computer, dem Handy oder stumm in ihrem Zimmer.
Die Folgen sind dramatisch – für die Einzelnen, aber auch für alle. Wo das soziale Netz reißt, verliert eine Gesellschaft ihren Halt. So kommt es, dass Niedergeschlagenheit und Isolation zu Massenphänomenen werden. Dass Jugendliche überhaupt keine Freunde mehr haben. Oder dass ein alter Mensch wochenlang tot in seiner Wohnung liegt, ohne dass es jemandem auffällt.
Die Bundesregierung nimmt das Problem ernst. So ernst, dass sie eine Strategie gegen Einsamkeit erarbeitet hat. Auf Initiative von Familienministerin Lisa Paus will das Kabinett sie heute beschließen. Mehr Forschung, Modellprojekte und Therapieangebote sollen gegen das grassierende Alleinsein helfen. Ein "Einsamkeitsbarometer" soll die Verbreitung von Einsamkeit in der Bevölkerung regelmäßig untersuchen. Vereine, Verbände, Stiftungen und Religionsgemeinschaften sowie Unternehmen werden eingebunden. Ziel ist eine breite zivilgesellschaftliche Aktion gegen das Alleinsein.
In diesen Tagen muss die Ampelregierung ja viel Schelte einstecken. Auch im Tagesanbruch, auch von mir. Dass sich die Herren Scholz, Habeck und Lindner nicht mehr grün sind (rot oder gelb schon gar nicht), ist offensichtlich. Dass sie damit das ganze Land lähmen, verdient Kritik. Heute aber wollen wir der Regierungsmannschaft Respekt zollen. Einsamkeit bestimmt zwar nicht die täglichen Schlagzeilen – aber sie schmerzt hierzulande viele Menschen mehr als die Konflikte draußen in der Welt. Gut, dass endlich mehr dagegen getan wird.
Wobei es nicht damit getan ist, dass die Politik das Problem ernster nimmt. Erfolgreich bekämpfen lässt es sich nur durch die ganze Gesellschaft. Wie wäre es also, wenn sich alle, die diese Zeilen lesen, eine kleine Aufgabe vornehmen: In den Tagen bis Weihnachten rufen sie mindestens einen Verwandten oder eine Freundin an, mit denen sie in diesem Jahr noch nicht gesprochen haben. Ich bin sicher: Sie würden jemanden sehr froh machen.
Abgang des Tages
Während der Schröder-Regierung war er für viele Leute eine Hassfigur. Man munkelte: auch für den Kanzler. Aber das stimmte nicht, die beiden Nordlichter verband allenfalls eine Hassliebe, falls es so etwas in der Politik gibt. Eher noch schätzten die beiden einander, weil sie beide mit allen politischen Wassern gewaschen waren, die Kniffe des Geschäfts kannten und Mehrheiten zu organisieren wussten. So gelang es Jürgen Trittin, nicht nur den Atomausstieg durchzuboxen (den Frau Merkel später zurücknahm, aber noch später doch durchzog). Er bescherte Deutschland auch das Dosenpfand und manch andere originelle Idee. Vor allem aber hielt er die widerstreitenden Lager der Fundis und Realos bei den Grünen einigermaßen zusammen. Dass das rot-grüne Bündnis überhaupt sieben Jahre durchhielt, war auch ihm zu verdanken.