Serie „So geht es Deutschland wirklich“ - „Kann ich mir nicht mehr leisten“: Bittere Abrechnung einer schwer kranken Frau
„Es ist nicht einfach, Pflegekräfte zu finden“, weiß sie aus jahrelanger Erfahrung um den Fachkräftemangel. Deshalb rekrutiere sie in ganz Deutschland und Polen. Würde sie keine Übernachtungsmöglichkeit in unmittelbarer Nähe stellen, wäre es noch schwieriger.
Hinzu kommen 1300 Euro Hilfe zur Pflege, inklusive Pflegegeld. Das zweite Konto. Von denen muss Steffgen täglich 141 Minuten ihrer Pflegekräfte finanzieren. So kompliziert will es das Gesetz.
Vor Gericht hat sie sich für die Teilhabe vor Ort außerdem 450 Euro pro Monat an Taxigeld als Eingliederungshilfe erstritten – das Sozialamt wollte pauschal lediglich zwei Hin- und Rückfahrten im Umkreis von 50 Kilometern.
„Die Taxipreise sind immens gestiegen“, sagt sie. Vor der Pandemie hätten hier 300 Euro im Monat gereicht. Wegen ihrer gesundheitlichen Einschränkungen sind Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht möglich.
Susanne Steffgen: „Für mich ist das sehr teuer“
Zum Leben bleiben ihr rund 1230 Euro Erwerbsminderungsrente, die Steffgen seit 1995 erhält.
Mit 29 Jahren hatte sie bereits drei Berufe gelernt: Staatlich geprüfte Maschinenbautechnikerin, Versicherungsfachfrau und Maschinenschlosserin. 1993, kurz vor ihrem 30. Geburtstag, diagnostizierten Ärzte bei ihr eine neurologische Erkrankung. Nach 78 Wochen Krankheit wurde sie berentet. „Ich habe nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste Rente“, bilanziert die 60-Jährige.
Doch von der Rente geht noch die Miete ab. Hinzu kommen rund 240 Euro Stromkosten – Sauerstoffgerät, Rollstuhl und andere medizinische Geräte benötigen viel Energie. Deshalb übernimmt die Krankenkasse rund 150 Euro, „Für mich ist das sehr teuer“, merkt Steffgen dennoch an und verweist auch hier auf die steigenden Preise.
Gas ist im Mietpreis glücklicherweise enthalten, hinzu kommen Fixkosten etwa für Telefon und Internet. Zudem erhält sie derzeit 165 Euro im Monat Wohngeld, nachdem der Satz in den Vorjahren wegen der Rentenerhöhungen auf einen zweistelligen Betrag gesunken war. Was die Inflation ausgleichen sollte, kam bei Steffgen damit bis zur Erhöhung des Wohngeldes nicht an. Die einzig gute Entscheidung der Ampelregierung, so ihr Fazit.
Für die 60-Jährige selbst bleiben damit trotz der monatlichen Kontobewegungen im fünfstelligen Bereich kaum mehr als 800 Euro. Durch ein Ehrenamt als Patientenvertreterin beim Kassenärztlichen Verband Niedersachsen (KVN) erhält sie für die Sitzungstermine eine Aufwandsentschädigung von 70 Euro.
„Ich hätte 5000 bis 6000 Euro brutto als Maschinenbautechnikerin, wenn ich arbeiten könnte“, merkt Steffgen an, die früher als Betriebsleiterin arbeitete. Erschwerend komme hinzu, dass sie wegen ihrer Erkrankungen nur frische Lebensmittel essen könne. Bei ihren finanziellen Mitteln bedeute das immer wieder Verzicht, sagt Steffgen. „Ich kaufe deutlich weniger als vor Corona und der Ampel-Regierung.“
„Ich denke positiv, die Hoffnung stirbt zuletzt“
Ein monatlicher Besuch im Restaurant wie früher sei gar nicht mehr möglich, zumal auch hier die Preise kräftig anzogen: Das Buffet in ihrem Lieblingsrestaurant koste statt 8,90 Euro nun 14,90 Euro plus die Verpflichtung, ein Getränk zu bestellen. „Das kann ich mir bei den Preisen nicht mehr leisten. Das Leben ist seit Corona sehr hart geworden“, sagt sie.
Hinzu kommen persönliche Rückschläge. Wegen der fortwährenden Auseinandersetzungen mit dem Sozialamt um ihre Teilhabe verpasste Steffgen die Verlobung und Hochzeit ihrer Tochter im Vorjahr. Der Nachteilsausgleich für den Besuch wurde nicht bewilligt. Auch ihre Mutter konnte sie im Jahr 2020 nicht in deren letzten Lebenstagen begleiten oder der Beerdigung beiwohnen.
„Das ist sehr deprimierend und diskriminierend“, sagt Steffgen; der Kontakt zur Familie sei fast gänzlich abgerissen. Im August dieses Jahres wurde ihr dann zwar plötzlich ein Besuch in der Heimat in Rheinland-Pfalz bewilligt. „Aber das Angebot war katastrophal und nicht umsetzbar“, betont sie. Der Besuch kam nicht zustande – und wieder zieht die 60-Jährige vor das Sozialgericht Oldenburg, um ihr Recht zu erstreiten.
Ihren Lebensmut und den Willen zur Teilhabe lässt sich Steffgen trotz aller Hürden nicht nehmen. „Ich denke positiv, die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt sie, schränkt dann jedoch ein: „Die Realität wird eher schlechter.“
Gerne erinnert sie sich an ihre Zeit als Gemeinderätin in Ganderkesee zwischen 2016 und 2021 zurück. Als Vertreterin für die Linke, mit der sie sich inzwischen zerstritten hat, erreichte sie etwa ein barrierefreies Freibad. Zudem überzeugte sie den Gemeinderat, einen zweistöckigen Kindergarten trotz der Mehrkosten mit einem Fahrstuhl auszustatten. „Man muss betroffen sein, um zu sehen, warum das gut ist“, so ihre Beobachtung.
Soziale Kälte: Angst vor möglicher AfD-Regierung
Trotz ihres zwischenzeitlichen politischen Engagements ist der 60-Jährigen der Frust über den Berliner Betrieb anzumerken. „Die Masse und der Durchschnitt der Leute haben real immer weniger Geld. Das muss sich ändern“, sagt Steffgen. Stattdessen erhärtet sich bei ihr der Eindruck, dass Reiche geschont würden. In puncto Inklusion müssten außerdem die geltenden Gesetze eingehalten werden.
Doch es ist nicht eine Gesellschaft voller Barrieren und die aktuelle Politik, die Steffgen umtreibt. „Am meisten Angst macht mir eine mögliche AfD-Regierung“, sagt sie. Denn die wolle ein noch schlechteres Sozialsystem.
Mit einem persönlichen Budget in fünfstelliger Höhe oder einem selbstbestimmten Leben könne sie dann nicht mehr rechnen. Genauso wenig einen Staat verklagen, um ihre Rechte durchzusetzen: „Dann werde ich wahrscheinlich Flüchtling in einem anderen Land.“