Auf seiner 1350 Kilometer langen Wanderung erlebt der 72-Jährige Begegnungen, Kriegsspuren und die bewegende Geschichte seines Vaters.
„Ich bin der Wieser Simon und ich bin heuer im Frühjahr in die Ukraine gegangen.“ So beginnt Simon Wieser seinen Vortrag vor 150 Besucherinnen und Besuchern im Frauenneuhartinger Pfarrheim. 1350 Kilometer zu Fuß, von der Haustüre in Frauenneuharting nach Uschhorod, dem Grenzort in der Ukraine. Keine große Distanz, sagt Simon Wieser, immerhin sei er schon einmal 2500 Kilometer am Stück gegangen, nach Santiago de Compostela. Und doch war diese Reise eine besondere. Der 72-Jährige folgt auf seinen zahlreichen Wanderungen immer wieder den Spuren Heiliger: von Jakobus dem Älteren, Franz von Assisi und Olav Haraldsson II. Nun also noch der Jakobsweg zum östlichsten Ort auf der Strecke: Kosice in Slowenien – und weiter. Dorthin, wo sein Vater 1944 den Krieg erlebt hat: in die Ukraine. Sein diesjähriger Pilgerweg, sagt Simon Wieser, sei zu einer Reise zwischen Krieg und Frieden geworden.
Simon Wieser erzählt humorvoll, im Dialekt, besonders. Das Erste bei der Reise sei das Handy, sagt er. „Da gibst du ein: Frauenneuharting-Uschgorod“. Zur Luftlinie müsse man ein paar Kilometer dazurechnen. Das blaue Karohemd, das er am Vortragsabend trägt, habe ihn auf all seinen Pilgerreisen begleitet. Die Schulterpartie habe er von seiner Cousine Kuni „aufdoppeln“ lassen, weil der Rucksack ihn an dieser Stelle immer so „neiffet“. Im Gepäck: eine überschaubare Menge Kleidung, Pferdesalbe, Pilgeröl, Magnesium und Zinksalbe.
„Wer auf den Jakobsweg will, der muss nur auf Ramerberg gehen“, sagt Simon Wieser. Dort, im Altlandkreis Wasserburg, finde man das erste Symbol: die gelbe Muschel auf blauem Hintergrund. Entlang von Attel, Inn und Donau, danach über „so a paar Buckel rüber“. Gemeint sind die niedere und die Hohe Tatra. „20 000 Höhenmeter, ned so schlimm.“ Simon Wieser erzählt von Abenteuern bei der Zimmersuche, etwa dem fünf Quadratmeter großen Doppelzimmer, das exakt so breit gewesen sei wie das Doppelbett, das man hineingezwängt habe. Unterwegs hört er von einem Wundermittel gegen den schmerzenden Fersensporn, das er zwei Tage im Voraus in der Apotheke von der übernächsten Tagesetappe bestellt. Es habe tatsächlich geholfen.
Es geht durch die Weinberge in der Wachau, durch Tschechien und die Slowakei. Alle Stationen sind mit Stempeln in seinem Pilgerausweis belegt. Das Schloss Lednice am Dreiländereck Österreich-Tschechien-Slowakei müsse man unbedingt besuchen, rät Simon Wieser. Allerdings sei es ein wenig abgelegen, sagt er, er habe 14 Tage hin gebraucht. Einmal gibt es 28 Kilometer keine Übernachtungsmöglichkeit, ein andermal 20 Kilometer keine Sitzgelegenheit. In Smolenice, nach der Messe in der Jakobskirche, isst Simon Wieser den ersten Stör mit Kaviar in seinem Leben. Es ist die Hälfte der Strecke. Auf dem Weg durchs Land bewegen die Begegnungen. Ein slowakischer Simon nimmt den bayerischen Simon mal ein paar Kilometer im Auto mit; manchmal trifft er andere Jakobspilger, „die alle in die falsche Richtung laufen“, aus Simon Wiesers Sicht jedenfalls.
In den Aufzeichnungen vom 8. Mai 2025 werfen Simon Wiesers Aufzeichnungen, aus denen seine Schwester Elisabeth immer wieder Ausschnitte vorliest, einen Schatten. Er ist in Mauthausen, Konzentrationslager-Gedenkstätte, und sieht die Beflaggung. „Dass ich gerade heute, 80 Jahre nach Kriegsende, hierherkomme?“ Auch an anderen Orten kommt der Pilger ins Nachdenken: Die Region um Poprad, 800 Jahre lang Heimat der Karpatendeutschen, zeige, was Krieg und Vertreibung angerichtet hätten. Drei Tagesetappen später trifft Simon Wieser auf Kosice, Anfang des östlichen Jakobwegs und letzte größere Stadt vor der Grenze zur Ukraine.
Auf den Wegen des Vaters
In Dargov eine beängstigende Situation: „Slowakische Panzer, die an meiner Unterkunft entlang fetzen.“ Ab da ist das Fortkommen zu Fuß nicht mehr möglich. Mit einem Transitbus passiert er die Grenze nach Uschhoro, der einzigen ukrainische Stadt, die seit 2014 von russischen Bomben verschont geblieben sei, erzählt Wieser. Die Grenznähe habe sie wohl davor bewahrt. Trotzdem sei der Krieg präsent: An einem Gebäude fotografiert er Bilder von mehr als 200 Gefallenen. Es habe ihn berührt, was er sah: „Soldaten, die auf ihren Zug an die Front warteten, zwei Ukrainer, denen Gliedmaßen fehlen“ und der schwer kriegsversehrte Valentin aus Charkiw, der auf einer Brücke Spenden für ukrainische Soldaten sammelte.
Für Simon Wieser geht es nach 50 Tagen mit dem Bus zurück in die Heimat. Zu Hause habe er, erfüllt von den Erlebnissen, das Kriegstagebuch seiner Vaters hervorgeholt und nachgelesen: „5.8.44 Jeden Tag 30 Kilometer marschiert, es gibt nur mehr für 6 Mann ein Brot.“ Eine Woche später heißt es in der Niederschrift des damals 20-Jährigen: „In der Nacht vom 12. auf 13.8. bei Kaschau die Grenze überquert.“ Kosice, als verbindender Ort zwischen Vater und Sohn, zwischen Krieg und Frieden. Was Krieg bedeute, sagt Simon Wieser zum Ende seines Vortrags, sehe man selbst in einer Stadt, in der es noch nicht einmal Bombardierungen gegeben habe.