Das Gute-Laune-Stellwerk: Im Turm an der Hackerbrücke gibts eigentlich nie Störungen
Ein Wunderwerk am Hauptbahnhof: 150 Weichen und 250 Signale werden für 1000 Züge täglich von der Hackerbrücke aus gesteuert. Und, oh Wunder: Es funktioniert seit 60 Jahren ohne Störungen.
Ob nun das Stellwerk der Bahn an der Hackerbrücke wirklich ein „architektonisches Wahrzeichen“ ist und, wie in einer Festschrift, im gleichen Atemzug mit Frauenkirche, Hofbräuhaus und Olympiastadion genannt werden kann – nun ja, da wollen wir mal ein Auge zudrücken. Jedenfalls ist es so, dass sie bei der Bahn mächtig stolz sind auf den 27 Meter hohen, mit braun eloxierten Aluminiumplatten verkleideten Koloss, der in einem Gleiswirrwarr thront. Seit 60 Jahren ist das nun so, weswegen die 30 Fahrdienstleiter des Stellwerks an der Hackerbrücke kürzlich ein schönes Fest gefeiert haben, mit Spanferkel am Grill. Eine Party unten auf der kleinen Grünfläche gleich neben dem Stellwerk. Links Gleise, rechts Gleise, quietschende Züge rund um die Uhr. Mancher Fahrgast wird verdutzt geschaut haben.
Die Chefin spricht
Wer meint, die Bahn sei ein desolater Haufen demotivierter Leute, der hat noch nicht dieses Stellwerk besucht. Es ist ein Gute-Laune-Stellwerk mit einer Chefin: Sigrid Hobmeier (55) ist nach Studium, Kinderpause und verschiedenen Stationen in DB-Stellwerken seit fast fünf Jahren Betriebsleiterin. Als sie anfing, erzählt die blond gelockte Frau in Jeans und Turnschuhen, war über die Hälfte der Besatzung über 60 Jahre alt. Doch der Personalumbau hat begonnen, die Bahn rekrutiert jetzt gezielt jüngere Leute, die erst in kleinen Stellwerken Betriebspraxis erhalten, ehe sie zur Hackerbrücke wechseln. Und die dann im Schichtbetrieb rund um die Uhr täglich für 1000 Züge 155 Weichen, 196 Lichtsperr- und 56 Hauptsignale so schalten, dass sie auf einem der 32 Gleise des Hauptbahnhofs einrollen. Wenn ab Mitte Dezember die S7 am Starnberger Flügelbahnhof endet, steigt die Zahl der täglichen Züge auf über 1100. Mehr gehe dann nicht mehr, heißt es.

Fahrdienstleiter sind das, was man beim Flughafen als Fluglotsen kennt. Zum Beispiel Michael von Carnap (33), seit dreieinhalb Jahren an der Hackerbrücke: Er hatte erst ein Studium begonnen, brach das aber ab und ging zur Bahn. Jeder Tag verläuft anders, sagt der Stellwerker. Zwar gibt es eine Art Blaupause für jeden Tag. Auf die Minute genau ist in diesem Fahrplan auch festgelegt, wann der Zug im Hbf einfährt und ihn wieder verlässt. Nur: Diesen Tag, an dem wirklich alles genau so abläuft wie auf dem Papier festgelegt, den gibt es nicht. Irgendwas ist immer. Verspätungen, Zugausfälle oder Notarzteinsätze wie just an diesem Tag auf der Hauptstrecke München–Augsburg Höhe Mering. Und dann ist Improvisationstalent gefragt. „Wir denken uns manchmal Beulen an den Kopf“, sagt der Mann mit Zopf und den Tattoos am Unterarm.
Der ICE in Doppeltraktion hat nicht überall Platz
Es ist auch nicht so, dass jeder Zug an jedem x-beliebigen der 32 Gleise einfahren darf. Vor allem der ICE ist die Diva unter den Zügen. Ein bisschen zickig, auf Sonderbehandlung bestehend. Ein doppelter ICE 2 zum Beispiel ist 402 Meter lang. Problem: Viele Bahnsteige sind kürzer. Am Hauptbahnhof darf so eine Doppelgarnitur möglichst nur an den Gleisen 13, 14, 15 und 22 einfahren.

Nur so ist zu verstehen, warum es am Tisch 2, von dem unter anderem die Gleise des Holzkirchner Flügelbahnhofs gesteuert werden, jetzt gerade hektisch wird. „Lokführer, was hast du dran“, ruft einer der Zugverkehrssteuerer, wie die Bahn neuerdings ihre Stellwerker nennt, am Telefon. Er hat einen Regionalzug kontaktiert, der gerade bei Kirchseeon steht, Verspätung hat und für den jetzt schnell ein Gleis gefunden werden muss. Dazu muss der Stellwerker die Zuglänge kennen – 200 Meter in diesem Fall, also kein Problem. Sollte es eine Gleisänderung geben, ist das auch ein Fall für Christopher Rink (38). Jeder, der öfter mal am Hauptbahnhof war, kennt seine sonore Stimme, denn Rinks Job ist die Ansage. Am Hauptbahnhof kommt nichts vom Band, keine Automatenstimmen wie bei den S-Bahnhöfen. Rink sitzt am Mikro und sagt Zug um Zug an, acht Stunden am Tag.
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Ein Rückblick auf alte Zeiten durfte beim Jubiläum kürzlich an der Hackerbrücke nicht fehlen. Sigrid Hobmeier hat eine Festrede aufgetrieben – von Heinz Maria Oeftering, 1957 bis 1972 langjähriger Präsident der damaligen Deutschen Bundesbahn. Oeftering war eine Institution. Der Mehdorn oder Lutz seiner Zeit, eventuell mit einer Spur mehr Sachverstand. In seiner Zeit wurden die Hauptstrecken der Bahn elektrisch. Manches, was der Chef der DB am 8. Oktober 1964 zur Eröffnung des Stellwerks ansprach, erinnert an heute: Immer geht‘s ums Geld. Oeftering sagte damals, dass es „nach Jahrzehnten unvergleichbarer Versäumnisse“ jetzt höchste Eisenbahn sei mit dem neuen Spurplanstellwerk. Tatsächlich dauerte es schon damals seine Zeit. 1955 begannen die Planungen, 1961 war endlich Spatenstich, und nach über fünf Jahren war das „technische Wunderwerk“ (Oeftering) fertig. Am 11. Oktober 1966 konnte der Hauptbahnhof in vier Stunden stufenweise an das neue Stellwerk angeschlossen werden – im Treppenhaus des Gebäudes hängt eingerahmt der damals erarbeitete Notfahrplan für diesen Tag. Auf alten Fotos sieht man Männer mit Schlips und weißem Hemd, die die Stelltische bedienten. Echtholzfurnier, hochwertige Teppichböden, auf so was legte man damals Wert. Man war schließlich Eisenbahner, nicht irgend so ein Büroheini. Es war eine solide, eine gediegene Bahn mit Sinn für Stil.

60 Jahre ist das Stellwerk alt – aber offenbar noch gut ins Schuss. Gut, ab und zu geht mal ein Relais kaputt. Ein Relais ist ein elektromagnetischer Schalter, der sich nach Stromzufuhr hin oder her bewegt. Reine Mechanik. Wenn oben im 7. Stock der Stellwerker eine Fahrstraße einstellt, das heißt Signale und Weichen so ordnet, dass ein Zug den letzten Kilometer vor dem Hauptbahnhof langsam aufs richtige Gleis einfädeln kann, dann klackt und rattert es im 4. Stock des „Turms“. Trotz der alten Technik (oder wegen?): Grobe Ausfälle beim Stellwerk Hackerbrücke sind nicht bekannt. Das erstaunt, da doch das im Wesentlichen baugleichen Relais-Stellwerk am Ostbahnhof so viele Störungen verursacht, dass es jetzt durch ein elektronisches Stellwerk ersetzt wird – mit zwei Jahren Verspätung soll es im Sommer 2025 so weit sein.
Wir denken uns manchmal Beulen an den Kopf.
Bei den Stellwerkern an der Hackerbrücke wundert man sich auch. Vermutlich sei am Ostbahnhof zu viel angestückelt worden, vermutet Sigrid Hobmeier, beispielsweise die Signale von S-Bahn-Gleisen. Beim Stellwerk Hackerbrücke ist alles aus einem Guss, ohne S-Bahn-Betrieb, der von der Donnersbergerbrücke aus gesteuert wird. Pläne, das Stellwerk zu digitalisieren, sind nicht bekannt. „Es wäre schwierig, hier noch was zu verändern“, heißt es bei den Fahrdienstleitern.

Schon bei der Einweihung 1966 gab es höchstes Lob für die Rundum-Verglasung des 7. Stocks, schräg montierte, spiegelfreie Fenster, die freie Sicht aufs Gleisfeld ermöglichen. Für den täglichen Betrieb sei das auch heute von unschätzbaren Wert, die ein- und abfahrenden Züge zu beobachten, heißt es. Mit Fahrdienstleitern, die in einem Büro ohne Tageslicht auf Computerbildschirm starren, ohne einen Zug zu sehen, möchten sie nicht tauschen im Gute-Laune-Stellwerk.