Oper der gemäßigten Moderne hat Tradition im Bregenzer Festspielhaus. George Enescus „Œdipe“ ist eine Wucht. Nur merkt man an dem Abend nicht viel davon.
Eng geschnittenes, schulterfreies Kleid, weit ausgreifende Flügel, die von fitnessgestählten Sklaven gehalten werden: Es gibt hässlichere Monster. Wenn da nur nicht diese Krallen wären, außerdem beißt die Sphinx. Nützt ihr wenig, Œdipe wird ihr Rätsel beantworten, sie damit in den Orkus schicken und Theben befreien. Ein paar Minuten dauert diese Szene nur, was schade ist: Es ist die beste dieser Premiere.
Auch in Bregenz widerfährt der Antikenoper „Œdipe“ ihr altes Schicksal. Kaum einer kennt den Vierakter von George Enescu. Doch wenn er gestemmt wird wie hier, hebt das große Staunen an: Was für ein Opus. Mit „Œdipe“, 1936 als Vermählung von Spätestromantik und musikalischer Farbenlehre à la française uraufgeführt, bezieht sich Enescu nur zu einem Teil auf die griechische Tragödienvorlage. Zugleich schrieb er aufs Libretto des französischen Schriftstellers Edmond Fleg eine monumentale symphonische Meditation über den Vatermörder und Muttergatten, der sich reuig die Augen aussticht. Mehr Oratorium ist dies und Schlaglichtfolge, oft glühende, effektvolle Innenschau, kein psychologisch unterfütterter Handlungsverlauf.
Zur Bregenzer Dramaturgie passt die Oper perfekt, im Festspielhaus werden traditionell Stücke der gemäßigten Moderne gezeigt. Zur Eröffnung des Vorarlberger Festivals macht sich aber bald Lähmung breit. Andreas Kriegenburg, an der Bayerischen Staatsoper einst verantwortlich für einen mittelmäßigen „Ring des Nibelungen“, beschert einen Regie-Rücksturz. Als sich der Vorhang öffnet, wähnt man sich in den Siebzigerjahren oder im Oberammergau vor Christian Stückl. Allseitiges Gewusel, der Chor bewegt sich teils (eine Regietodsünde) synchron zur Musik. Die Tanzmomente, von Enescu als Reminiszenz an die Grand Opéra eingebaut, werden kaum genutzt. Der Abend entpuppt sich bald als – immerhin versiert choreografierte – Beschäftigungsaktion. Kriegenburg, das hat er auch andernorts gezeigt, ist ein Menschenbeweger. Aber Menschen bewegen, das kann er zumindest mit „Œdipe“ kaum.
Immerhin imponiert sein Dauerbühnenbildner Harald B. Thor mit wuchtigen Szenerien. Doch die werden kaum adäquat gefüllt. Als Œdipe versehentlich seinen Vater tötet, laufen die Nebelmaschinen auf Turbo. Immer wieder gibt es biblische Allusionen – der mörderische Sohn begegnet uns als gefallener Messias. Doch das Grauen bleibt dekorativ, die Tragödie nur malerisch, auch damit knüpft Kriegenburg an überwundene Opernzeiten an. Durchaus wirkungsvolle Bilder bekommt das Gala-Publikum vorgesetzt. Doch die Wucht dieses Zweieinhalbstünders, seine schockierende, lakonische Drastik, sein kraftvolles Pathos lässt sich nur erahnen.
Einspringer Paul Gay in der Titelrolle
Die Titelrolle schrieb Enescu für einen Marathonmann. Ausgerechnet hier passiert Bregenz der GAU: Kurz vor Probenbeginn sagte Johan Reuter ab. Für ihn kam Paul Gay. Der hat sicherlich eine ansprechende Stimme und ein Sensorium für Phrasenbildungen. Doch die raumgreifende Geste, das vokale Charisma, all das fehlt ihm – so natürlich und präsent Gay auf der Bühne wirkt. Nicht unbedingt mit Lautstärke hat dies zu tun, sondern auch mit Farbempfinden und Stimmglanz, Gays Œdipe bewegt sich eher im Grauwertbereich.
Dafür ist Marina Prudenskaya als Jocaste fast überbesetzt. Man spürt, wie sie um Belebung, Intensität und Emotion bemüht ist, doch nimmt Enescu diese Figur schon bald aus dem Spiel: Der Suizid Jocastes tut auch der Aufführung nicht gut. Von der übrigen Besetzung lässt Mihails Culpajevs als Hirte aufhorchen, der Rest bewegt sich auf akzeptablem Niveau. Dafür räumt ein weiterer Protagonist ab: Enescu schrieb für das Volkskollektiv eine weitere Hauptrolle, der Prager Philharmonische Chor nutzt das bravourös.
In ihrer ersten Saison als Intendantin vertraut Liisa Paasikivi auf einen Landsmann am Pult. Hannu Lintu hat in München Debussys „Pelléas et Mélisande“ von Weichzeichner und falschem Parfüm befreit. Ähnliches glückt ihm bei Enescu, was zum großen Teil auch aufs Konto der Wiener Symphoniker geht. Andere lassen sich mit dieser Partitur zur Klangsahnetorte hinreißen, in Bregenz hört man geschärfte Details und Linien, eine Trennung der Schichten, zügige Tempi, aber auch, dass diese Musik für die Symphoniker nicht unbedingt Alltagskost ist.
Für die neue finnische Chefin ist nach dieser Auftaktproduktion also Luft nach oben. 24 Stunden später dann draußen auf der Seebühne die Wiederaufnahme des „Freischütz“, die Produktion fädelte bekanntlich ihre Vorgängerin Elisabeth Sobotka ein. Paasikivi kann sich also trösten: Ihre erste „richtige“ Saison ist ja erst 2026.