Merz-Regierung will das Bürgergeld-Ende: Experte warnt vor „Entweder-oder“-Politik

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Die „neue Grundsicherung“ soll das Bürgergeld ersetzen. Das planen Union und SPD in ihrem neuen Koalitionsvertrag. Experten ordnen die Pläne ein.

München – Union und SPD haben ihren gemeinsamen Koalitionsvertrag präsentiert, der weitreichende Reformen für Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger vorsieht. Die „neuen Grundsicherung“ soll den bisherigen Schutz vor schnellen Kürzungen aufheben. Bereits in einem unveröffentlichten Koalitionspapier hatten sich die Arbeitsgruppen der möglichen Merz-Regierung auf zentrale Änderungen beim Bürgergeld geeinigt.

Merz-CDU will Bürgergeld mit Grundsicherung ersetzen

CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hatte zuvor angekündigt, das Bürgergeld abzuschaffen. Die Partei argumentiert, dass der Grundsatz „Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der es nicht tut“ durch das Bürgergeld oft untergraben werde. Besonders im Fokus stehen die „Totalverweigerer“. Im Koalitionspapier heißt es: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“

Der Koalitionsvertrag ergänzt: „Für die Verschärfung von Sanktionen werden wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten.“ Das Urteil von 2019 legt fest, dass Sanktionen im Bereich der Grundsicherung maximal 30 Prozent des Regelbedarfs betragen dürfen. Diese Regelung gilt auch für das Bürgergeld.

Grundsicherungs-Pläne von CDU: Experte fordert, „alle Register“ zu ziehen

Obwohl Union und SPD sich darauf verständigt haben, sich an geltendes Recht zu halten, bleibt unklar, wie ein vollständiger Leistungsentzug damit vereinbar ist. Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am IAB, hält solche Sanktionen für schwer umsetzbar.

Koalitionsverhandlungen von Union und SPD abgeschlossen – Bürgergeld soll Grundsicherung weichen.
Union und SPD haben weitreichende Veränderungen in Sachen Bürgergeld angekündigt – und wollen dieses durch die neue Grundsicherung ersetzen. © Kay Nietfeld/dpa

Weber erklärt bei IPPEN.MEDIA, dass Sanktionen einerseits die Arbeitsaufnahme fördern, andererseits aber auch zu Jobs mit wenig Perspektive führen. In einer Studie vom März 2025 bezeichneten IAB-Expertinnen und Experten dies als „zweischneidigen Schwert“.

Weber fordert: „Wir brauchen mehr Qualifizierung, wir brauchen mehr Unterstützung, wir brauchen mehr Verbindlichkeit.“ Er empfiehlt, in der Arbeitsmarktpolitik nicht auf ein „Entweder-oder“ zu setzen, sondern „alle Register“ zu ziehen. Dazu gehört, Sanktionen angemessen einzusetzen, Anreize für Arbeitslose zu schaffen und individuelle Unterstützung zu bieten.

Union und SPD wollen Sanktionen „schneller, einfacher und unbürokratischer“ durchsetzen

Die Definition von „Arbeitsverweigerung“ bleibt unklar. Laut Jobcentern sind die Hürden für Sanktionen hoch. Wenn ein Arbeitgeber ein Angebot zurückzieht, entfällt der Sanktionsgrund. Regelsatz-Streichungen für „Totalverweigerer“ gab es bisher nicht. Der Anteil entsprechender Sanktionen lag zuletzt bei rund einem Prozent der erwerbsfähigen Bürgergeld-Beziehenden.

Im Koalitionsvertrag steht: „Sanktionen müssen schneller, einfacher und unbürokratischer durchgesetzt werden können.“ Die „besondere Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen“ wird berücksichtigt. Union und SPD wollen Arbeitslose stärker in die Pflicht nehmen: „Jede arbeitslose Person hat sich aktiv um Beschäftigung zu bemühen.“ Unterstützung bieten Arbeitsagenturen und Jobcenter.

Neue Koalitionspläne von Union und SPD: Wer Grundsicherung beantragt, soll sein Vermögen offenlegen

Der Vermittlungsvorrang soll wieder eingeführt werden, um Betroffene schnell in Arbeit zu bringen, statt sie länger in Qualifizierungsmaßnahmen zu halten. Weber sieht darin eine Vorlage, wie Menschen künftig in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen. „Das sollte eine Entscheidung für den Einzelfall sein“, betont er und plädiert für mehr individuelle Unterstützung.

Eine weitere Einschränkung betrifft die Karenzzeit für Bürgergeld-Beziehende. Rücklagen und Wohnverhältnisse sollen nicht mehr unangetastet bleiben. Wer Grundsicherung beantragt, muss eigenes Vermögen sofort offenlegen und verwerten. Auch die Prüfung auf „unverhältnismäßig hohe Kosten“ der Wohnung könnte direkt beginnen. Die Definition von „unverhältnismäßig“ bleibt jedoch unklar.

Grundsicherung von Union und SPD: Sozialrechtsexpertin will „das Beste aus beiden Welten“

Union und SPD wollen die automatische Anpassung der Regelsätze an steigende Preise abschaffen. Diese wurde während der Corona-Krise eingeführt. Künftig sollen die Leistungen wieder an die Preisentwicklung der Vergangenheit angepasst werden, was zu zeitverzögerten Erhöhungen führt

Sozialrechtsexpertin Anne Lenze kritisiert dies als fatalen Fehler. Im Themenheft „Zwei Jahre Bürgergeld in der Praxis“ betont sie, dass die regelmäßige Anpassung der Regelsätze entscheidend für die Verfassungsmäßigkeit des Existenzminimums sei. 2022 sei das Bürgergeld „verfassungswidrig zu niedrig“ gewesen, da die Berechnungsformel die Inflation nicht ausreichend berücksichtigt habe.

Weber stimmt zu, dass die Anpassung an die Inflation mit der alten Regelung zu langsam war. „Da wurde mit zurückliegenden Jahreswerten gearbeitet“, erklärt er gegenüber IPPEN.MEDIA. Das System der Ampel-Regierung führte zu „öffentlichen Debatten und teilweise auch zu einer Diskreditierung des Systems“, da Bürgergeld-Beziehende rund zwölf Prozent mehr erhielten. Weber fordert eine nachträgliche, aber aktuellere Anpassung des Bürgergelds, um die Inflation zu berücksichtigen und die Kaufkraft zu sichern. „Dann hätte man das Beste aus beiden Welten“, fasst er zusammen. (cln/bk)

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