Hausgemachte Drohnen für den Ukraine-Krieg – Selenskyj präsentiert die „Palyanitsya“

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Teil der Gesellschaft: Im Rahmen einer Ausstellung in Kiew bestaunten Ukrainerinnen und Ukrainer Drohnen für verschiedene Aufgaben, die wahrscheinlich demnächst an der Front eingesetzt werden. Die „Palyanitsya“ war vermutlich nicht dabei – sie gilt als neues Wunderwerk gegen Wladimir Putin. © IMAGO/Ashley Chan/SOPA Images

„Palyanitsya“: Der Begriff für eine landestypische Brotsorte steht für die Emanzipationsbestrebungen der Ukraine; und jetzt für Putins neuen Albtraum.

Kiew – „Wenn ukrainische Streitkräfte auf einen mutmaßlichen russischen Saboteur treffen, der sich als Ukrainer ausgibt, bitten sie ihn normalerweise, das ukrainische Wort für eine lokale Brotsorte auszusprechen: ,palyanitsya‘“, schreibt Alexander J. Motyl. An der Aussprache der Endung würden die Ukrainer ihre Feinde erkennen, erläutert der Politikwissenschaftler im Magazin Foreign Policy: „Fast immer verrät der Verdächtige seine Nationalität und politische Einstellung, indem er das Wort mit einer anderen Endung ausspricht: ,palyanitsa‘.“ Jetzt wird dem Russland Wladimir Putins der Begriff nachhaltig ingebläut: „Palyanitsya“ heißt eine neue Langstrecken-Waffe, in die die Ukraine viel Hoffnung investiert.

Das ist unsere neue Methode der Vergeltung gegen den Aggressor. Der Feind ist besiegt. Ich danke allen, die das möglich gemacht haben. Allen Entwicklern, Herstellern und unseren Soldaten. Ich bin stolz auf euch“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Unabhängigkeitstag der Ukraine, dem 24. August. Selenskyj spricht von Waffen einer „völlig neuen Klasse“, wie sowohl die Ukrainska Prawda als auch der Kiew Independent berichtet haben.

Ein Raketen-Drohnen-Hybrid: Putins neuer Gegner am Himmel über dem eigenen Land

Selenskyj zufolge sei schwierig, etwas dagegen zu unternehmen, aber sehr leicht zu verstehen, warum sie abgefeuert wurde; für Russland werde die „Palyanitsya“ zu einer Herausforderung. Eine Herausforderung ist zunächst, zu bestimmen, was diese Waffe überhaupt ist: offensichtlich ein Raketen-Drohnen-Hybrid, wie Oleksandr Kamyschin zu erklären versucht.

„Einige Russischsprachige in der Ukraine haben erklärt, sie würden auf Ukrainisch umsteigen, da sie Russisch inzwischen als die Sprache des Aggressors und Unterdrückers betrachten. Sie wehren sich auch mit der Sprache.“

„Es ist eine Drohne – und es ist eine Rakete, denn gemäß seiner Spezifikationen fällt das Produkt unter beide Definitionen. Es wird mehr Raketendrohnen geben, so wie es bereits mehr Langstrecken-Angriffsdrohnen gibt, deren Ergebnisse wir fast täglich sehen“, sagt der ukrainische Minister für strategische Industrien nach Angaben des Magazins Defense Express. Die Waffe sieht aus wie eine kleine Rakete und verfügt über ein Leitwerk und schmale Tragflächen; die Palyanitsya“ scheint von einem Düsentriebwerk bewegt zu werden.

Auf welches Ziel die neue Waffe abgefeuert worden ist, bleibt offenbar geheim. Fakt ist, dass zeitgleich mit der Meldung des Einsatzes der neuen „Wunderwaffe“ durch den ukrainischen Präsidenten ein Munitionslager in der russischen Region Woronesch getroffen worden sein soll; vermutlich tatsächlich durch eine ukrainische Langstrecken-Drohne. Auf Video-Bildern von Anwohnern in Sozialen Netzwerken soll angeblich ein Düsentriebwerk zu hören gewesen sein – diese Vermutungen publizierte Defense Express.

Geheimniskrämerei um „Wunderwaffe“: Stillschweigen darüber, wo sie Putin Verluste beibringen wird

Andererseits soll Kamyschin in Sozialen Netzwerken erklärt haben, die Waffe sei „nicht in Russland eingesetzt worden, sondern für einen Angriff auf einen Feind in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine“, wie das Magazin erläutert. Kamyschin erklärte in dem Zusammenhang die „,Raketendrohne‘ als nächsten Schritt in der Entwicklung der ukrainischen Verteidigungstechnologie“. Der Moment des Jungfernfluges sei sehnsüchtig erwartet worden; und genauso wie mit dem Coup in der russischen Region Kursk hat die Ukraine die Welt wohl wieder überrascht.

Scheinbar hätten die ukrainischen Entwickler einen optimalen Weg eingeschlagen, um „eine ausgewogene Balance zwischen Zerstörungskraft und – verglichen mit vollwertigen Marschflugkörpern – relativ geringen Kosten zu finden, um eine Massenproduktion mit Schwerpunkt auf Kosteneffizienz zu ermöglichen“, schreibt Defense Express. Nach wie vor scheinen die Drohnen für die Ukraine der günstigste Weg zu sein, zu Erfolgen im Ukraine-Krieg zu kommen.

„Drohnenmacht Ukraine“: Durch gezielten Bürokratie-Abbau zum Aufbau einer Schlüsseltechnologie

„Die Ukraine ist in den letzten Jahren und insbesondere seit Beginn des Krieges zu einer Drohnenmacht geworden“, sagte Ulrike Franke, vom European Council on Foreign Relations gegenüber dem ZDF. Und sie ist sich ziemlich sicher: „Es ist wahrscheinlich, dass die Ukraine aus diesem Krieg als wichtiges Drohnenherstellerland hervorgehen wird.“ Insofern werden die jetzigen Ausgaben als Entwicklungskosten zu betrachten sein – und angesichts möglicher künftiger Gewinne vielleicht tatsächlich nachträglich als Schnäppchen. Für die Ukraine bedeuten Drohnen die militärische Schlüsseltechnologie.

Diese habe zwar bereits vor dem Ukraine-Krieg bestanden, habe aber mit der Invasion an Fahrt aufgenommen. Ein halbes Dutzend Regierungsbehörden kümmerten sich um Belange rund um Entwicklung und Produktion von Drohnen, schrieb Foreign Policy Anfang Juli. Offenbar würden allgemeine Hemmnisse der Wirtschaft in der Ukraine für die Drohnen-Industrie abgebaut werden – beispielsweise durch Senkung der Steuersätze. Laut FP-Autorin Tamar Jacoby sollen aufgrund dieses administrativen Schubs „mehr als 200 registrierte Unternehmen – einige Branchenkenner zählen sogar mehr als 500 Hersteller, wenn man kleinere Firmen und Freiwillige in Werkstätten mitzählt – die Truppen jetzt mit Hunderttausenden Drohnen pro Monat beliefern“.

Wirtschaftliche Gegenoffensive: Drohnen-Bauer profitieren von Deregulierung durch Kiew

„Palyanitsya“ ist offensichtlich ein eindrucksvolles Ergebnis von Deregulierung im ukrainischen Wirtschaftssystem: Laut Jacoby sollen Komponenten für Drohnen vorher sowohl mehrwertsteuer- als auch einfuhrzollpflichtig gewesen sein; darüberhinaus der Weg durch den Behördendschungel undurchdringlich, bis ein Entwickler ein Produkt an das Militär verkaufen durfte, äußert Alex Bornyakov . „Früher dauerte es drei bis fünf Jahre“, sagt der stellvertretende Minister für digitale Transformation der Ukraine gegenüber Foreign Policy, „und man brauchte jemanden mit Einfluss, der dabei half, es durchzusetzen.“ Heute wäre dieser Prozess in maximal drei Monaten abgeschlossen.

Offenbar ist die Ukraine immer noch in der kommunistischen Wirtschaftspolitik der Sowjetunion gefangen und entwickelt sich nur langsam daraus heraus. Laut Jacoby waren Gewinne von Rüstungsunternehmen auf drei Prozent gedeckelt. Inzwischen hat die ukrainische Regierung diese Grenze auf 25 Prozent angehoben. Was vorher Unternehmen in ihrer Innovationskraft gelähmt zu haben schien, bedeutet wohl jetzt den Turbo für Forschung und Entwicklung sowie für Profite der Unternehmen; was wiederum neue Innovationen provoziert.

„Das löste eine Revolution in der Drohnenindustrie aus“, sagte gegenüber FB Valerii Iakovenko, Mitbegründer von DroneUA, heute einer der größten Drohnenhersteller der Ukraine. Offenbar hat sich die Ukraine in einem speziellen industriellen Sektor von Russland beziehungsweise von der gesamten Welt emanzipiert. Wie der Thinktank Atlantic Council mutmaßt, habe das Land aus der Not eine Tugend machen müssen. Die Betonung der Agilität in der Ukraine stehe im Gegensatz zu der stärker zentralisierten Militärstruktur des Kreml. Russland könne zwar scheinbar unerschöpfliche Mengen Kriegsgüter produzieren; doch vergleichsweise langsame Entscheidungsprozesse und bürokratische Ineffizienzen hecheln der Dynamik an den Fronten hinterher, schreibt David Kirichenko.

Charkiw statt Charkow: Russlands Einfluss-Verluste zeigen sich auch in der Sprache

Wir haben nicht so viele Humanressourcen wie Russland. Sie kämpfen, sie sterben, sie schicken mehr Leute, es ist ihnen egal, aber so sehen wir Krieg nicht“, kommentiert Alex Bornyakov. Drohnen befreien die Ukraine aus ihrer Abhängigkeit von Munitionslieferungen, von den Beschränkungen der Nutzung von Westwaffen und dem Fehlen kampffähiger Männer. Mit Blick auf die Zukunft werde sich die Drohnenkriegs-Strategie der Ukraine weiterhin auf Flexibilität, Innovation und die tägliche Herausforderung des Einsatzes von Drohnen konzentrieren, um den technologischen Vorsprung gegenüber Russland aufrechtzuerhalten, prophezeit Tamar Jacoby.

Das gilt für die handtellergroßen FPV-Drohnen (First-Person-View), von denen die Ukraine täglich Dutzende bis Hunderte startet. Das gilt ebenso für Langstreckendrohnen mit einer Präzision und Feuerkraft für gezielte Zerstörungen über eine Distanz von 2.000 Kilometern. Das gilt noch viel mehr für die künftigen Drohnenschwärme, die mittels Künstlicher Intelligenz russische Truppen attackieren werden.

Die Ukrainer wehrten sich, und zwar nicht nur mit Waffen und Aussprachetests, wie Alexander J. Motyl in Foreign Policy festgehalten hat. Der russische Herrschaftsanspruch finde sich auch in den ukrainischen Begriffen und werde dort seit Beginn der Invasion immer weiter herausgedrängt. Der Fluss Dnepr hieße deshalb jetzt Dnipro, und Charkow sei jetzt Charkiw. „Einige Russischsprachige in der Ukraine haben erklärt, sie würden auf Ukrainisch umsteigen, da sie Russisch inzwischen als die Sprache des Aggressors und Unterdrückers betrachten. Sie wehren sich auch mit der Sprache.“

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