"Wir können nichts tun", sagen die Ärzte bei Noahs Geburt – heute studiert er

Als ihr die Ärzte im Krankenhaus Bethel in Bielefeld mitgeteilt hätten, dass ihr Kind kein normales Leben werde führen können, sei sie in Tränen ausgebrochen. "Ihr Sohn ist körperlich und geistig auf dem Stand eines Neugeborenen, er entwickelt sich nicht, es tut uns leid, wir können nichts tun", hätten ihr die Ärzte gesagt. "Ich bin aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt, hinaus aus der Klinik bis zu einer Bank im Park", erinnert sich Sarah.

Weinend habe sie dort gesessen, als einer der Ärzte, der gerade mit an ihrem Bett gestanden habe, zu ihr geeilt sei. Er habe gesagt: "Geben Sie die Hoffnung nicht auf." Er kenne einen Arzt am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin im Heidelberger Universitätsklinikum, sie hätten zusammen studiert. Sie solle Kontakt mit ihm aufnehmen.

Gefangen im eigenen Körper

Was damals niemand weiß: Noah hat einen Gendefekt. Eigentlich hätte dieser auffallen müssen, denn bei jedem Kind wird - mit Einwilligung der Eltern - wenige Stunden nach der Geburt ein sogenanntes Neugeborenen-Screening gemacht: Das Blut wird auf Marker für bestimmte Krankheiten untersucht. Bei Noah schien jedoch alles in Ordnung. Denn die besondere Unterform der Erkrankung, an der das Kind litt, zeigt sich nicht im Blut. Dafür hätte man das Genom analysieren müssen.

Vor zwei Jahrzehnten steckte die Gensequenzierung allerdings noch in den Kinderschuhen. Heute wäre es theoretisch möglich, Neugeborene auf diverse behandelbare Zielkrankheiten zu untersuchen, um möglichst schnell mit der Therapie zu beginnen. Über Noahs Leben entschied so der Zufall.

Mit ihrem Kind im Arm und einem Zettel mit einer Telefonnummer in der Hand verlässt Sarah die Klinik, Noah ist fünf Monate alt. "Er konnte nichts, außer liegen", sagt Simon, der Vater. Die kleinen Händchen habe er zu Fäusten geballt und sie immer wieder in der Luft geschüttelt. 

Während Sarah das erzählt, kommen ihr die Tränen: "Er wollte sich bewegen, konnte es aber nicht, er war gefangen in seinem eigenen Körper." Heute führt Noah ein fast normales Leben. Sarah, Simon und Noah heißen eigentlich anders; aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes bleiben sie sowie die genauen Orte anonym. Auch auf Fotos wollen sie lieber verzichten.

Umzug für die Arzttermine

Sarah meldet sich beim Heidelberger Uniklinikum, nennt den Namen des Arztes, den ihr der Mediziner aus Bielefeld empfohlen hatte, und erhält einen Termin - im August 2003. Es ist Dezember 2002. Die Klinik teilt ihr mit, es würde schneller gehen, wenn sie in der Nähe wohnen würde. Da setzt sich ihr Mann ins Auto und fährt von Bielefeld in eine Stadt in der Rhein-Neckar-Region. Er hat mehrere hundert Euro in bar dabei. Für die Kaution. Er findet eine Wohnung, und das junge Ehepaar bricht alle Zelte in Nordrhein-Westfalen ab und zieht nach Baden-Württemberg, in die Nähe der Hoffnung.

Im Frühjahr des Folgejahres wird Sarah mit Noah zu ersten Untersuchungen stationär in der Kinderklinik des Universitätsklinikums aufgenommen. "Sie haben alles gemacht, EKG, MRT vom Kopf, Blutabnahmen." Doch die Ärzte hätten nichts gefunden, keine Auffälligkeiten. Noah ist inzwischen ein Jahr alt. Andere Kinder können da schon sitzen, beginnen sich hochzuziehen und unternehmen erste Laufversuche. Noah liegt auf dem Rücken und ballt die Fäuste.

Wenige Monate später, im August, folgt der zweite Check-up. Eine junge Ärztin habe gesagt: "Ihr Kind strahlt im Gesicht so viel Gesundheit aus, ich kann mir das nicht erklären." Die Experten beschließen, eine Rückenmarkspunktion durchzuführen, sie wollen das Nervenwasser auf Marker untersuchen. Es stellt sich heraus, dass dort die Konzentrationen von Metaboliten, bestimmter Substanzen aus dem Dopamin-Stoffwechsel vermindert sind. Eine erste Spur.

"Heute ist ihr Sohn geboren"

Für den Dopaminmangel im Nervenwasser kommen eine Vielzahl von Ursache infrage. Eine davon ist eine ultra-seltene Störung in der Bildung von Dopamin im Gehirn. Bei dieser Krankheit, die der Gruppe des infantilen Parkinsonismus zugerechnet wird, kann aufgrund einer genetisch bedingten Enzymstörung kein Dopamin gebildet werden. Anders als beim Parkinson des Erwachsenen, bei dem die Dopamin-bildenden Zellen im Gehirn untergehen, führt der genetische Defekt dazu, dass die entscheidenden Zellen im Gehirn gar nicht erst die Funktionen zur Bildung von Dopamin entwickeln können.

Die Ärzte schlagen den Eltern vor, es mit einem Medikament zu versuchen, das zur Behandlung erwachsener Parkinson-Patienten eingesetzt wird. Sie sagen, es könne gut sein, dass gar nichts passiert. Außerdem sei das Medikament für Kinder nicht zugelassen, und sie müssten erst die richtige Dosis finden. "Sie wollten sichergehen, dass wir uns in nichts hineinsteigern", sagt Sarah.

An einem Abend im Sommer 2003 erhält das Kind eine Dopamintablette. Sarah kann in der Nacht kaum schlafen, sie habe auf der Terrasse der Klinik gesessen und zu Gott gebetet: "Bitte, mach mein Kind gesund". Dann habe sie sich ins Bett gelegt, neben sich das Kinderbett mit Noah. Am nächsten Morgen sei sie von einem Geräusch wach geworden: "Bang, Bang". Ihr Sohn schlägt mit den Händen gegen die Gitter des Bettes. Sarah ruft nach der Ärztin, und die sagt zu den Eltern: "Heute ist ihr Sohn geboren, das ist für ihn der Tag eins."

Noah studiert inzwischen

Noah entwickelt sich von da an wie ein normales Kind, nur eben mit anderthalb Jahren Verspätung. Bald hält er den Kopf sicher, rollt, robbt, krabbelt. Mit drei Jahren läuft er und beginnt zu sprechen. "Jede Woche gab es etwas zu feiern", sagt Simon. Heute ist Noah 22 Jahre alt. Vor drei Jahren hat er an einem Gymnasium Abitur gemacht, zurzeit studiert er.

Eine Heilung für Noahs Krankheit gibt es nicht. Das Parkinsonmittel, das er jeden Tag nehmen muss, kann die Symptome aber unterdrücken. "Nach meinem Selbstverständnis bin ich ein normaler Mensch", sagt er selbst. Die Behandlung in jenem Sommer kam gerade rechtzeitig: Ein Jahr, vielleicht auch nur ein paar Monate später wären die Schäden irreversibel gewesen. Die düstere Prognose der Bielefelder Ärzte, dass Noah kein normales Leben würde führen können, hätte sich erfüllt.