„Es wird keine Alternative geben“ - Jetzt wird das große Kriegs-Tabu der Ukrainer immer wahrscheinlicher

„Einfrieren“ ist eines dieser Wörter, die als völlig vergiftet gelten in der Ukraine. Weil ein sogenanntes Einfrieren der Front immer einen Verlust von eigenem Staatsgebiet bedeutet.

Und weil viele Ukrainer:innen sich sehr genau erinnern, worin das letzte „Einfrieren“ von Kampfhandlungen in ihrem Land mündete: Sieben Jahre, nachdem 2015 im Abkommen von Minsk eine Waffenruhe für die Ostukraine beschlossen wurde, begann Russlands Armee am 24. Februar 2022 mit der Vollinvasion des Nachbarlandes.

Jens Stoltenberg benutzte das Wort „Einfrieren“ deshalb nun wohl auch bewusst nicht, als er in einem Interview mit dem Portal „Table.Briefings“ über Optionen für ein Kriegsende sprach.

Stattdessen sagte der ehemalige Nato-Generalsekretär: „Wir brauchen eine Waffenstillstandslinie, und natürlich sollte diese Linie idealerweise alle Gebiete einschließen, die Russland derzeit kontrolliert. Wir sehen aber, dass das in naher Zukunft nicht unbedingt realistisch ist.“

Und er erklärte: „Wenn die Waffenstillstandslinie bedeutet, dass Russland weiterhin alle besetzten Gebiete kontrolliert, heißt das nicht, dass die Ukraine das Gebiet für immer aufgeben muss.“

Wichtig sei, dass die Regierung in Kyjiw im Gegenzug für vorübergehende Gebietsabtretungen Sicherheitsgarantien erhalte, sagte der Norweger, der künftig die Münchner Sicherheitskonferenz leiten wird. Das könnte die Nato-Mitgliedschaft sein, es gebe aber auch „andere Möglichkeiten, die Ukrainer zu bewaffnen und zu unterstützen“.

Trump drängt auf schnelles Kriegsende

Mögliche Gebietsabtretungen an Aggressor Russland waren lange ein Thema, das vor allem moskaufreundliche Politiker:innen ansprachen. Aus dem Mund von Ukraine-Unterstützer:innen hingegen schien es ein Tabu. Das scheint sich gerade zu ändern.

Die Hintergründe sind vielfältig: Da ist zum einen der russische Vormarsch an der Front, der dazu führt, dass die Ukraine massiv unter dem Druck steht, sich auf Zugeständnisse einzulassen.

Da sind Umfragen, die zeigen, dass nach mehr als 1.000 Tagen Krieg zwar immer noch eine deutliche Mehrheit der Ukrainer:innen gegen Gebietsabtretungen an Russland ist – aber eben auch ein Drittel sie mittlerweile in Kauf nehmen würde.

Und vor allem ist da der bevorstehende Amtsantritt von Donald Trump in den USA, die bislang der wichtigste Unterstützer der Ukraine sind. Trump will den Krieg in Osteuropa möglichst schnell beenden. Und der Plan von seinem neuen Ukraine-Sonderbeauftragten Keith Kellogg sieht Berichten zufolge vor, dass Kyjiw und Moskau dazu gedrängt werden sollen, einem Einfrieren der Front zuzustimmen.

Selenskyj unter Druck

Offiziell hält Kyjiw weiter an seinem sogenannten Friedensplan fest, der einen vollständigen Abzug der russischen Truppen vom ukrainischen Staatsgebiet vorsieht. Zwischen den Zeilen aber scheint Präsident Wolodymyr Selenskyj – unter Druck gesetzt von russischen Erfolgen und oft zu zögerlichen westlichen Hilfen – eine Aufweichung der eigenen Forderungen in Betracht zu ziehen.

Dem britischen Sender Sky News sagte er vor wenigen Tagen, ein Waffenstillstand mit Russland sei denkbar, wenn die unbesetzten Gebiete unter den Schutz der Nato gestellt würden.

„Das müssen wir schnell tun“, so Selenskyj wörtlich. „Und dann kann die Ukraine die anderen Gebiete auf diplomatischem Wege zurückerlangen.“ Zugleich pochte er darauf, dass die gesamte Ukraine eine Einladung zum Nato-Beitritt erhalte.

Rückholung besetzter Gebiete wird schwierig

Am Ende werde es wohl tatsächlich auf ein Einfrieren des Kampfgeschehens hinauslaufen, sagt Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik dem Tagesspiegel. „Es wird keine Alternative dazu geben“, sagt er. „Die Ukraine wird zeitweise Gebiete abtreten müssen, da sie nicht dazu in der Lage ist, diese zu erobern.“

Zwar gehe es Stoltenberg offensichtlich darum, Bedingungen für Verhandlungen zu definieren, die für alle akzeptabel seien. Trotzdem gibt Meister zu bedenken: „Die Frage ist, was zeitweise heißt. Wie wir wissen, integriert Russland die besetzten Gebiete und betreibt große Umerziehungsprogramme für die ukrainische Bevölkerung“, sagt er. „Es wird schwer werden, die besetzten Gebiete zurückzubekommen.“

Natürlich bleibe abzuwarten, wie sich Russland in Zukunft entwickele und wie lange es noch in der Lage sein werde, eine Gefahr für Europa zu sein, gibt der Politologe zu bedenken. „Aber erstmal werden diese Gebiete für lange Zeit verloren sein.“

Moskau muss an Verhandlungstisch gedrängt werden

Hinzu kommt, dass eine dauerhafte Waffenruhe gar nicht so einfach umzusetzen ist. Zum einen reicht es nicht, Kyjiw an den Verhandlungstisch zu drängen – auch Moskau muss zustimmen. Und dort dürfte Kremlchef Wladimir Putin derzeit nur bedingt Interesse an Verhandlungen haben.

Nur unter Druck und mit massiven Zugeständnissen wird Putin zustimmen.

Immerhin läuft es aus Putins Sicht gerade gut an der Front. Und er will laut eigener Aussage deutlich mehr vom ukrainischen Staatsgebiet, als seine Armee bislang erobert hat.

„Nur unter Druck und mit massiven Zugeständnissen wird Putin zustimmen“, sagt auch Stefan Meister. „Außerdem wird er sein Ziel, die gesamte Ukraine zu kontrollieren, nicht aufgeben.“

Deshalb könne eine dauerhafte Waffenruhe nur erreicht werden, wenn die Ukraine verlässliche Sicherheitsgarantien bekomme, betont der Osteuropa-Experte. „Ohne Sicherheitsgarantien von Nato-Staaten oder der Nato wird kein Einfrieren oder Waffenstillstand möglich sein beziehungsweise nur kurz funktionieren.“ Er fügt hinzu: „Hier müssen die Mitgliedsstaaten der Nato Verantwortung übernehmen – und Washington erwartet, dass die Europäer das tun.“

Von Hannah Wagner