„Doppelte Ohrfeige“: Neuwahlen in Berlin – muss die Ampel-Koalition nun zittern?
Die Berliner Bundestagswahl 2021 muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Teilen wiederholt werden. Ein Experte erklärt die Tragweite des Urteils für Ampel und die Linke.
Karlsruhe – Paukenschlag in Karlsruhe: Ist die Ampel-Koalition in Gefahr? Fliegen Linke und Wagenknecht-Abgeordnete aus dem Bundestag? Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts am Dienstagvormittag dürfte im politischen Berlin jede Spur von besinnlicher Vorweihnachtszeit verflogen sein. Denn: Die Berliner Bundestagswahl von 2021 muss in Teilen wiederholt werden. Nach etlichen Mängeln am Wahltag muss in 455 Wahlbezirken samt Briefwahlbezirken neu abgestimmt werden.
Gerichtsurteil zur Berliner Bundestagswahl 2021 ist „doppelte Ohrfeige“
„Das Ergebnis ist eine doppelte Ohrfeige“, sagt Jürgen Falter, Politikwissenschaftler und emeritierter Professor an der Universität Mainz zu IPPEN.MEDIA. „Es ist eine Ohrfeige für die Berliner Wahlbehörden und den Wahlprüfungsausschuss im Bundestag.“
Ein Platzen der Ampel-Regierung hält Falter durch das Gerichtsurteil aber für unrealistisch. „Die Ampel wird nicht betroffen sein. Allenfalls verliert ein Abgeordneter sein Direktmandat, die politischen Auswirkungen der Neuwahlen werden aber gering ausfallen.“ Trotz schlechter Umfragewerte der Regierungsparteien sei der Umfang der Neuwahl für ein Platzen der Koalition zu gering. Laut Urteil muss in 455 der insgesamt 2256 Berliner Wahlbezirke und in 104 der 1507 Briefwahlbezirke neu gewählt werden. Die Linke ist Falter zufolge dadurch in ihrer parlamentarischen Repräsentanz nicht bedroht.
Linke und Wagenknecht-Abgeordnete sind wohl außer Gefahr
Dazu gibt das Bundesverfassungsgericht den Behörden 60 Tage Zeit. Die Wahl wird am Sonntag, 11. Februar 2024 und damit dem letztmöglichen Termin stattfinden, sagte der Berliner Landeswahlleiter Stephan Bröchler. In der Neuauflage dürfen Menschen wie gewohnt Erst- und Zweitstimme vergeben, heißt es von der vorsitzenden Karlsruher Richterin Doris König.
Kurz nach der Urteilsverkündung dürfte besonders in Kreisen der Linken und im Bündnis Sahra Wagenknecht große Nervosität ausgebrochen sein. Die Linke sitzt nur wegen drei gewonnener Direktmandate im Bundestag, davon zwei aus Berlin. Fiele bei einer Neuwahl auch nur ein Direktmandat weg, würden die gesamte Linke, ebenso wie sämtliche Parlamentarier vom abgespalteten Bündnis Sahra Wagenknecht, aus dem Parlament fliegen.
Union und Ampel-Koalition war für Teilneuwahlen in Berlin
Die Angst dürfte großer Erleichterung gewichen sein, als klar wurde, dass die betroffenen 455 Wahlbezirke weder die Direktmandate von Gregor Gysi noch von seiner Parteifreundin Gesine Lötzsch (beide Linke) in Gefahr bringen können. Beide Mandate liegen in von der Neuwahl weitgehend unberührten Wahlkreisen.
Dem Urteil voraus ging ein Beschluss des Bundestags von 2022. Darin stimmte eine Mehrheit der Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP für Neuwahlen in 327 Berliner Wahlbezirken. Die Union legte dagegen vor dem höchsten deutschen Gericht eine Wahlprüfungsbeschwerde ein und forderte Neuwahlen in etwa 1000 Wahlbezirken.
Nächstes Kapitel im Berliner Wahlchaos von 2021
Das Gericht aus Karlsruhe erklärt, dass der Bundestagsbeschluss überwiegend rechtmäßig sei. „Der Bundestag hat das Wahlgeschehen jedoch unzureichend aufgeklärt“, heißt es vom zweiten Karlsruher Senat. Der Prüfungsausschuss hat die Auswertungen des Wahldebakels einiger Bezirke nicht berücksichtigt. Der Wahlprüfungsausschuss ist damit laut Experte Falter abgewatscht. Nur wenige Wochen nach dem Haushaltsurteil kommt aus Karlsruhe eine weitere Entscheidung, die laut Falter weder der Union, noch der Ampel gefallen dürfte.
Am Wahltag 2021 herrschten in Berlin chaotische Zustände. Viele Menschen mussten über Stunden vor Wahllokalen warten, Stimmzettel waren falsch, gingen aus oder fehlten vollkommen. Einige Wahllokale mussten vorzeitig schließen, andere blieben länger als 18 Uhr auf. Schon die Berliner Abgeordnetenhauswahl wurde deshalb Anfang 2023 komplett wiederholt.