FOCUS online: Frau Rehme-Röhrl, Sie sind Notärztin und Mutter. Wie stark beeinflussen sich diese Rollen gegenseitig?
Julia Rehme-Röhrl: Sehr stark. Meine Tochter sagt manchmal schon: „Ich kriege kein Hochbett, weil du bist ja eine Notarztmami.“ Das trifft es ganz gut (lacht).
So nennen Sie sich auf Social Media, wo Sie seit gut vier Jahren zum Thema Kindersicherheit aufklären. Wie kam es dazu?
Rehme-Röhrl: Früher war ich die typische Notärztin und Unfallchirurgin: super-tough, abgeklärt, nichts konnte mich aus der Ruhe bringen. Wenn Eltern überreagierten oder sogar hysterisch wurden, hatte ich dafür wenig Verständnis. Mit der Geburt meiner Tochter hat sich das komplett verändert. Ich bin sensibler und verständnisvoller geworden. Besonders eine Situation hat mich geprägt.
Welche war das?
Rehme-Röhrl: Meine Tochter bekam eines Nachts einen Pseudokrupp-Anfall. Das ist ein bellender Husten, der durch eine plötzliche Verengung der Atemwege entsteht. Er betrifft häufig Kleinkinder zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Typischerweise tritt er nachts auf und kann sowohl für das betroffene Kind als auch die Eltern extrem beängstigend sein.
Sogar für Sie als Ärztin?
Rehme-Röhrl: Ja. Ich bin damals selbst panisch geworden – obwohl ich medizinisch genau wusste, was gerade passiert. Aus Unsicherheit habe ich im Internet recherchiert und bin auf viele unseriöse, teils gefährliche Informationen gestoßen. Da dachte ich: Wenn es mir schon so geht, wie muss es dann Eltern ohne medizinischen Hintergrund gehen? Das war der Auslöser, meinen Kanal zu starten.
Lassen Sie uns konkret werden: Was machen Sie als Mutter nie, weil Sie Notärztin sind?
Rehme-Röhrl: Ich lasse mein Kind beim Schwimmen niemals allein. Dafür habe ich zu viele schlimme Badeunfälle miterlebt. Einmal ist ein kleiner Junge sogar ertrunken. Auch beim Thema Schlafumfeld war ich extrem vorsichtig, wegen der Gefahr des plötzlichen Kindstods. Und auch Schmuck ist für mich ein No-go. Selbst Bernsteinketten, die angeblich beim Zahnen helfen sollen, können gefährlich werden.
Wie das?
Rehme-Röhrl: Gerade Babys und kleine Kinder können sich mit Ketten und Armbändern leicht strangulieren. Das Risiko nimmt zwar mit dem Alter ab, aber für mich kommt Schmuck erst dann infrage, wenn Kinder ihn selbstständig an- und ablegen und sich damit im Notfall allein daraus befreien können.
Auch bei Spielzeug sind Sie eher restriktiv. Warum?
Rehme-Röhrl: Weil ich einfach weiß, was passieren kann. Ich habe schon einen Dreijährigen gesehen, der sich einen halben Finger in einem vermeintlich harmlosen Verschluss eingeklemmt hat. Ich habe unzählige Zungen genäht, weil Kinder mit Stöcken herumgerannt sind. Deswegen schaue ich sehr genau hin, womit meine Tochter spielt. Manche Dinge kommen mir schlicht nicht ins Haus.
Zum Beispiel?
Rehme-Röhrl: Etwa die großen Trampoline, die heutzutage in vielen Gärten stehen. Natürlich können sie Spaß machen, aber die Sturzgefahr ist enorm hoch. Gerade kleine Kinder können zudem die Kräfte, die auf den Bewegungsapparat wirken, noch nicht einschätzen und abfedern. Gefährliche Verletzungen an Kopf und Wirbelsäule können die Folge sein. Das Gleiche gilt für Hochbetten.
Weil auch da die Sturzgefahr zu hoch ist?
Rehme-Röhrl: Absolut. In kleinen Wohnungen sind Hochbetten sicher oft praktisch und manchmal unvermeidbar. Gibt es jedoch Alternativen, rate ich davon ab. Selbst für größere Kinder ist ein Hochbett gefährlich: Während tiefer Träume können sie sich unbewusst so stark bewegen, dass sie aus dem Bett stürzen. Als Kompromiss kann man weiche Bodenmatten oder eine Extra-Matratze vor das Bett legen.
Was würden Sie Ihren Kindern noch niemals schenken?
Rehme-Röhrl: Definitiv keine sogenannten „Waterbeads“. Diese kleinen Gelkugeln werden von den Herstellern zwar als für die motorischen Fähigkeiten förderliches Spielzeug verkauft, quellen aber bei Kontakt mit Wasser auf. Werden sie verschluckt, können sie die Atemwege blockieren – mit potenziell lebensgefährlichen Folgen. Aus demselben Grund halte ich auch Popcorn für Kleinkinder für riskant.
Worauf sollten Eltern beim Kauf von Spielzeug generell achten?
Rehme-Röhrl: Es gibt eine gesetzliche „Spielzeugrichtlinie“, die grundlegende Sicherheitsanforderungen festlegt. Sie schreibt zum Beispiel vor, dass Spielwaren schwer entflammbar und Kleinteile sicher verarbeitet sein müssen. Doch gerade im Internet wird auch viel unsicherer Billigkram verkauft. Deshalb achte ich zusätzlich auf Gütesiegel wie das GS-Zeichen des TÜV Rheinland oder den Öko-Tex-Standard 100. Zudem frage ich immer: Ist das Spielzeug wirklich altersgerecht? Könnte es zu laut sein? Lösen sich leicht Teile? Sind die verwendeten Farben unbedenklich? Viele Eltern unterschätzen, welche Risiken Spielzeug bergen kann.
Gleichzeitig kritisieren Sie, dass viele Eltern wegen Banalitäten den Notruf wählen. Machen wir uns Sorgen über die falschen Dinge?
Rehme-Röhrl: Ich würde sagen: ja. Viele Eltern sorgen sich um Kleinigkeiten, unterschätzen aber die echten Risiken. Ich sehe zum Beispiel häufig Kinder unangeschnallt im Auto oder selbst hinten auf dem Motorrad, und dann heißt es: „Ach, das geht schon für die kurze Strecke.“ Da werde ich wahnsinnig. Gleichzeitig vergessen viele, dass Kinder noch kein Gefahrenbewusstsein wie Erwachsene haben und die Folgen ihres Handelns oft nicht abschätzen können. Dieses Bewusstsein entwickelt sich erst im Grundschulalter.
Woran liegt es, dass es vielen offenbar immer schwerer fällt, Gefahren realistisch einzuschätzen?
Rehme-Röhrl: Es gibt im Internet eine Fülle an Informationen, was einerseits hilfreich ist, aber eben oft auch verunsichern kann. Viele Eltern kommen deshalb wegen Bagatellen in die Notaufnahme oder rufen vorsichtshalber lieber den Krankenwagen. Sie wollen sich absichern und die Verantwortung abgeben, nach dem Motto: „Der Arzt wird’s schon wissen.“ Doch das ist ein Trugschluss: Ärzte sind weder Hellseher noch können wir den Eltern die Verantwortung für ihre Kinder abnehmen. Es ist so wichtig, dass Eltern selbst informiert und aufgeklärt sind, um im Notfall vorbereitet zu sein und die Gesundheit seiner Kinder gewährleisten zu können.
Julia Rehme-Röhrl (36) ist Notärztin und Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie. Als „Notarztmami“ teilt sie auf Instagram ihr Wissen und setzt sich für mehr Sicherheit von Babys und Kindern im Alltag ein. 2024 erschien ihr gleichnamiges Buch im Herder-Verlag. Rehme-Röhrl lebt mit ihrer Familie bei München.