Was machte die Callas falsch, was richtig? Ein Experte gibt Auskunft
Nicht einmal eineinhalb Jahrzehnte währte die Karriere-Hochzeit von Maria Callas. Schon früh zeichneten sich stimmliche Defekte ab. Doch woran lag das? Wir haben dazu einen Experten gefragt: Matthias Echternach, Professor für Phoniatrie und Pädaudiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Hatte die Callas eine gesunde Stimme?
Die Callas durchlief unterschiedliche Lebensphasen. Da war am Anfang eine aufstrebende junge Frau, die unglaubliche Töne hervorbringen konnte. Dann verlor sie durch eine radikale Diät erheblich an Gewicht. Es gibt Untersuchungen bei gewichtsreduzierenden Eingriffen, die zeigen, dass sich die stimmliche Leistungsfähigkeit ändert – erstaunlicherweise zum Positiven hin. Diese Untersuchungen betreffen aber keine Sänger, sondern ganz normale Menschen. Bei der Callas gab es hier eine Zäsur, wobei es sich letztlich nicht klären lässt, ob die Diät ihren Gesang beeinflusste. Später häuften sich die Phasen, in denen sie sich auch privat aufopferte. Wir wissen nur: Mit knapp über 40, wo andere Sopranistinnen vokal im vollen Saft stehen, hatte sie große vokale Probleme.
Die Folge einer Überbelastung?
Wir sagen in der Stimmmedizin immer, dass es negative Folgen gibt, wenn es zu früh zu schwer und zu laut wird. Die Callas sang ein riesiges Repertoire nicht nur vom Belcanto bis zum Dramatischen, sondern auch vom Sopran bis zum Mezzosopran. Es handelt sich also um eine große Aus-, vielleicht auch Überdehnung des Repertoires. Nehmen wir ihre frühe Kundry im „Parsifal“: Wir wissen nicht genau, wie es sich anfühlt, wenn man Wagner auf Italienisch singt. Es dürfte für die Stimme leichter, gnädiger sein als auf Deutsch, das Italienische ist allein von der Konsonantenbehandlung melodischer. Auch haben die Orchester damals leiser gespielt. In dieser ganzen Diskussion bleibt aber das Gesamtkunstwerk Callas entscheidend. Ihre Aufopferung, die man eben auch hört und großartig in ihrer Wirkung war. Heute würde man vielleicht eine Karriere mehr mit Bedacht entwickeln. Der Belcanto, das ist unsere Wahrheit in der Stimmphysiologie, verursacht jedenfalls vermutlich keine Defekte, sondern eher das schwere Fach.
Was waren genau ihre stimmlichen Defekte?
Es gab von Anfang an Registerdivergenzen. Die Callas nutzte teilweise sogar eine Art Sprechgesang als Stilmittel. Das lehnen andere für sich ab, weil es schroff klingen kann. Allerdings, und das hat die Callas gezeigt, kann es auch etwas Wahrhaftiges haben. Und Letzteres wünschen wir uns doch – auch wenn es für den Sänger anstrengend ist. Ziemlich früh gab es auch ein ungesundes Vibrato. Und was man noch feststellen kann: Die Callas sang häufig unsauber. Zu Beginn ihrer Karriere ein klein wenig zu hoch – wie bei einem Geiger, der das als Trick anwendet, um besser übers Orchester zu kommen. Das klingt dann brillanter und charmanter. Später sang sie häufig zu tief.
War es eine genuin große Stimme oder hat sie Dramatik künstlich und damit ungesund erzeugt?
Dazu muss man erst einmal fragen, was Dramatik heißt. Handelt es sich um das Repertoire zwischen Verdi, Wagner, Strauss oder um einen bestimmten Klang? Wir haben das Thema untersucht, indem wir Sänger gebeten haben, eine Tonleiter einmal lyrisch, einmal dramatisch zu singen. Dramatik wurde von ihnen dabei immer mit Lautstärke übersetzt. Manche haben ein größeres Vibrato genutzt, andere haben die Stimme abgedunkelt. Was die letzten beiden Dinge betrifft, sind wir bei der Callas: Wir hören sehr dunkle Farben, die wahrscheinlich mit einem langen vokalen Rohrsystem einhergingen. Anders lässt sich das nicht erklären, weil sie beim Singen die Mundwinkel weit nach hinten zog – was eigentlich für hellere Farben sorgt. Insofern handelt es sich tatsächlich um eine dramatische Stimme.
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Wie kam es zum Kontrollverlust beim Vibrato?
Das kann man nie genau sagen. Ein ausuferndes Vibrato ist ganz häufig das Indiz dafür, dass die stimmliche Spannung nicht mehr gehalten werden kann. Das wäre damit ein pathologisches Zeichen. In diesem Fall hätte die Callas drei Gänge zurückschalten und mehr Mozart denken müssen. Was noch ein Problem ist: Sänger nehmen ihren eigenen Klang anders wahr, rein aus physiologischen Gründen. Die Frage ist demnach, ob der Callas wirklich alles bewusst war. Aber trotz des großen Vibratos: Selbst wenn man die späten Aufnahmen aus Covent Garden hört, erlebt man eine der unglaublichsten Künstlerinnen überhaupt.
Hat sie ein so starkes Naturmaterial mitgebracht, dass ihre Gesangslehrer, ihre Dirigenten und letztlich sie selbst dramatische Rollen für richtig hielten?
Es war sicher keine kleine Stimme, sondern auch exaltiert in ihrer Wirkung und mit einer unglaublichen Farbpalette. Gleichzeitig konnte sie enorm subtil singen. Doch auch anderes ist hier wichtig – das Timing, der Umgang mit dem Text, die darstellerische Agilität auf der Bühne, ganz allgemein die große Präsenz. Und selbst wenn man die Callas nur hört: Gerade das Timing macht sie so einzigartig. Sie hatte einen harten Stimmeinsatz. Wo andere den Ton einschwingen lassen, gab sie Volldampf. Sie warf für den Affekt alles in die Waagschale.
Hätte man die Stimme retten können?
Man kann nur zu einer gewissen Stimmhygiene raten. Wir empfehlen immer, mehr an Lyrik zu denken, anstatt Dramatik zu wollen. Wer Wagner singt, sollte also Mozart im Hinterkopf haben. Dann besteht nicht die Gefahr, dass man im Streben nach großem Ausdruck ungeschützt singt. Dieses Runterkommen ist sehr wichtig. Man kann extrem dramatisch sein, ohne dass man laut wird. Wenn ein Sänger aus dem dramatischen Fach zu mir kommt, sage ich gern: „Denken Sie an das Gemälde ,Der Schrei‘ von Edvard Munch. Dieser Mensch dort produziert keinen Ton, ist aber trotzdem eindringlich.“ Das bedeutet, dass man durch Phrasierung und Textbehandlung wahnsinnig laut wirken kann, ohne dass man es ist. Aber noch einmal: Trotz aller Probleme bleibt die Callas eine unvergessliche, unfassbare Künstlerin – auch in ihren späten, eher fragwürdigen Aufnahmen.
Interessant ist doch, dass die Callas dank ihrer Reflexion genau wusste, was sie singt und wie sie den Inhalt rüberbringen kann. Diese Reflexionskraft versagte offenbar bei der Beurteilung der eigenen Stimme.
Sie ging eben immer an die Grenzen. Und sie hat, auch aus inhaltlichen Erwägungen, Pathos zugelassen – damit hat sie stimmphysiologisch gesehen Grenzen überschritten. Doch das tun viele, auch in anderen Genres. Vielleicht sollte man sogar dankbar sein, dass die Callas so über die Stränge schlug, sonst hätte es diese Interpretationen nie gegeben. Es ist ja nicht nur der Gesang, der so fasziniert. Sie wurde auch zur Stil-Ikone.
Hätte die Callas-Stimme heute eine Chance?
Absolut. Gerade weil sie über eine Stimme verfügte, die in den vergangenen zehn Jahren wieder stark gefragt ist. Diese Rotweinfarben, wie sie Anna Netrebko oder Sonya Yoncheva bieten. Durch die historisch informierte Aufführungspraxis, so mein Eindruck, wurde alles sehr hell, sehr leichtgewichtig. Das Pendel bewegt sich nun in die andere Richtung.
Das Gespräch führte Markus Thiel.