„Schäm dich!“ – Familien der Hamas-Geiseln demonstrieren vor Netanjahus Haustür
Israels Regierung gerät zunehmend unter Druck: Im Kriegskabinett gibt es nun Forderungen nach einem Waffenstillstand.
Tel Aviv – Der Druck auf Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bleibt hoch – von der Straße, aus dem Kriegskabinett und vom diplomatischen Parkett. Am Sonntagabend (22. Januar) schlugen Angehörige der Geiseln der Hamas laut Berichten ein Protestcamp vor seinem Privathaus auf.
„Schäm dich“, riefen die Demonstranten dem rechtskonservativen Politiker zu, berichtete das Portal Times Of Israel. „Wir fordern, dass die Regierung die Fehler des 7. Oktobers heilt“, sagte Jon Polin, der Vater des 23-jährigen Hersh Goldberg-Polin, der vom Supernova-Festival verschleppt wurde. Die in der Gewalt der Islamisten verbliebenen 136 Geiseln in „Leichensäcken“ zurück nach Hause zu bringen, dürfe „nie als Teil eines Sieges“ betrachtet werden, so Polin.
Das israelische Militär geht davon aus, dass nur noch etwa 100 der Geiseln am Leben sind, berichtete die Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Netanjahu verweigerte in den vergangenen drei Kriegsmonaten immer wieder Gespräche mit Angehörigen der Geiseln. Eli Shtivi, Vater des vom Supernova-Festival entführten 28-jährigen Idan Shtivi, trat mit der Forderung nach einem Treffen mit Netanjahu in einen Hungerstreik.
Bis er einen Termin bekomme, werde er nur noch ein Viertel eines Pita-Brotes am Tag essen – so viel, wie die befreiten Geiseln von den Terroristen bekämen. Das berichtete die AP. 105 Geiseln tauschten Israel und die Hamas gegen Strafgefangene aus israelischen Gefängnissen aus. Vermittelt hatte das Golfemirat Katar. Teil des Deals war eine Feuerpause.

Kriegskabinettsminister Eisenkot fordert Waffenstillstand und kritisiert Netanjahu
Die israelische Protestbewegung für die Freilassung der Geiseln fordert seit Monaten einen Waffenstillstand. Netanjahus ultrarechte Regierungskoalition, insbesondere seine rechtsextremen und rechtsradikalen Koalitionspartner aus dem ultraorthodoxen Lager, lehnen diesen aber kategorisch ab. Ihr erklärtes Ziel des Kriegs in Israel ist die „vollständige Auslöschung“ der Hamas. In Netanjahus Kriegskabinett sehen das nicht alle so: Gadi Eisenkot, ehemaliger Generalstabschef, warf Netanjahu am Wochenende erstmals vor, „Illusionen“ über die militärischen Möglichkeiten der Geiselrettung zu schüren.
Er betonte, „ausschließlich“ ein Waffenstillstand könne das Leben der Geiseln retten. Der liberalkonservative Eisenkot trat gemeinsam mit seinem Parteifreund Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz kurz nach dem Überfall der Hamas auf Israel in das Kriegskabinett ein. Weite Teile der israelischen Gesellschaft halten Netanjahu laut Umfragen inzwischen für „ungeeignet“, sein Amt auszuüben. Viele Israelis geben Netanjahu eine Mitschuld am Angriff der Hamas am 7. Oktober. Das israelische Militär hatte Kräfte zum Schutz radikaler Siedler ins Westjordanland verlegt. Diese Siedler sind in Netanjahus Koaliton durch den Rechtsextremen Itamar Ben-Gvir vertreten.
Israels Armee will ihr „Möglichstes“ zur Rettung der Geisel tun
Militärsprecher Daniel Hagari betonte, dass alles „Mögliche“ getan werde, um die Geiseln lebendig zu retten. So versuche man die Gebiete, in denen das Militär die Geiseln vermutet, von Angriffen auszusparen. Zudem wirft das israelische Militär immer wieder Flugblättern mit Bildern der Geisel über dem Gazastreifen ab.
Die Hamas droht jenen, die Israel bei der Suche nach den Geiseln helfen, mit Gewalt, berichtete unter anderen die AP. Die befreiten Geiseln berichteten von sexualisierter Gewalt durch Hamas-Angehörige gegen die Geiseln in Gaza. Israels Angriffe auf Gaza machten weite Teile des Küstengebiets „unbewohnbar“, sagte Martin Griffiths, Chef des UNO-Nothilfebüros, Anfang Januar.
Vor einem Treffen der EU-Außenminister mit Vertretern arabischer Staaten, den Außenministern der palästinensischen Autonomiebehörde und Israels am Montag kritisierte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Netanjahus Verweigerungshaltung. Mit Blick auf die Zweistaatenlösung sagte Baerbock: „All diejenigen, die davon nichts wissen wollen, haben bisher keine andere Alternative auf den Weg gebracht“. Für sie sei eine „unabhängiger, demokratischer und entmilitarisierter“ Palästinenserstaat die „einzige“ Lösung.
Opposition in Israel bereit, über Zwei-Staaten-Lösung zu sprechen
Benny Gantz und der liberale Oppositionsführer Jair Lapid signalisierten vor dem Krieg immer wieder Offenheit dafür. In aktuellen Umfragen hätten sie bei einer Wahl eine komfortable Parlamentsmehrheit. Nach den Massakern der Hamas, bei denen über 1000 Israelis ermordet wurden, vermieden beide den Begriff Staat und sprachen von einer palästinensischen „Entität“.
Der politische Anführer der Hamas, Chalid Maschal, sagte kürzlich in einem Interview, er und die Hamas lehnten die Zwei-Staaten-Lösung ab, und wollten einen palästinensischen Staat „vom Fluss bis zum Meer“ – also vom Jordan bis zum Mittelmeer. Das lässt sich als antisemitische Vernichtungsfantasie werten. Der Aachener Antisemitismusexperte und Politologe Stephan Grigat betonte in der Zeit, das erklärtes Ziel der Hamas, der Hisbollah und des Irans sei die „Auslöschung Israels“. Dort leben etwa neun Millionen Menschen. (kb mit dpa)