Als Zehntausende Flüchtlinge in München ankommen, bricht eine Polizistin in Tränen aus

Der Münchner Hauptbahnhof war im Flüchtlingssommer 2015 ein Hotspot für die Ankunft der Migranten in Deutschland. Zwischen dem 5. und dem 14. September kamen hier 67.000 Geflüchtete an. Bettina Spahn war schon damals die Leiterin der Katholischen Bahnhofsmission München. Im Interview mit FOCUS online erinnert sie sich an die außergewöhnliche Zeit.

FOCUS online: Alleine am 6. September kamen am Münchner Hauptbahnhof 13.000 Geflüchtete an. Eine unvorstellbare Zahl, vermutlich auch für Sie, die Sie ja nun schon seit über 30 Jahren in der Bahnhofsmission arbeiten, nicht wahr?

Bettina Spahn: Es ist nicht so, dass wir uns an diesem Tag oder auch an den anderen komplett überrumpelt oder ausgeliefert gefühlt haben. Das Ganze ist sehr schnell reguliert und organisiert worden, das muss man sagen. Federführend von der Inneren Mission. Man hat sich hier eng mit der Bundespolizei, der Deutschen Bahn und auch mit uns abgestimmt. 

Flüchtlingssommer 2015: "München hat hingeschaut und gehandelt"

Ist die deutsche Bürokratie also besser als ihr Ruf?

Spahn: Ich glaube, da kam damals einfach vieles zusammen. Nehmen Sie allein die Bevölkerung. Die Münchner waren unglaublich hilfsbereit und engagiert.

Bettina Spahn
Bet­ti­na Spahn leitet die Ka­tho­li­sche Bahn­hofs­mis­si­on in München und hat in dieser Funktion auch den Flüchtlingssommer 2015 erlebt. Ka­tho­li­sche Bahn­hofs­mis­si­on München

Stimmt, die Zeitungen berichteten damals von einem blauen Kühlschrank, der plötzlich auf dem Bahnhofsvorplatz stand. Polizisten sollen dabei geholfen haben, ihn an den richtigen Platz zu wuchten, damit die Ankommenden wenigstens kühles Wasser bekamen…

Spahn: Das ist nur ein Beispiel von vielen. Besonders präsent ist mir noch eine helfende Familie, die mir eine große Tasche mit wunderschönen Babysachen für eine Flüchtlingsfamilie in die Hand drückte. Oder die Frau, die viele Stunden täglich an den Gleisen unterwegs war, um Windeln zu verteilen. Ob das wirklich zielführend war, sei mal dahingestellt, unsere materiellen Ressourcen waren schließlich gut. Was ich meine, ist die Haltung. München hat hingeschaut und gehandelt.

"Die Situation war durchaus absehbar und erwartbar"

Und das sozusagen von jetzt auf gleich, nicht wahr?

Spahn: Für uns als Bahnhofsmission kann ich sagen: Ein Stück weit war die Situation durchaus absehbar und erwartbar. Genau genommen schon seit Monaten.

Was meinen Sie?

Spahn: Uns wird ja gerne eine Art seismografische Funktion zugesprochen. Tatsächlich hatten wir schon lange vor September gesehen, dass deutlich mehr Menschen am Bahnhof ankamen, die augenscheinlich auf der Flucht waren. Es war sichtbar, dass sich etwas verändert. Auch, dass die Kapazitäten für die Registrierung und die Erstunterkunft in München an ihre Grenzen kommen. Im September haben sich dann wie gesagt alle Akteure sehr schnell abgestimmt. Die Ankunft von so vielen Menschen zusätzlich zu den ungefähr 500.000 Reisenden und Pendlern, die täglich am Bahnhof unterwegs sind, war wirklich eine Sondersituation für uns.

Ganz normaler Reisefluss trotz Tausenden Flüchtlingen am Bahnhof

Die Sie aber trotz der Herausforderung gut bewältigen konnten, sagen Sie?  

Spahn: Genau. Das Chaos, das manche vielleicht erwartet hatten, blieb aus. Dank einer Reihe gut aufeinander abgestimmter Maßnahmen konnte der ganz normale Reisefluss selbst an den Spitzentagen aufrechterhalten werden. 

Von welchen Maßnahmen sprechen Sie?

Spahn: Die Deutsche Bahn hat Fläche zur Verfügung gestellt. Und auch die Bundespolizei war mit sehr viel Personal vor Ort. Es wurde unter anderem mit Bauzäunen und Absperrungen gearbeitet. So wollte man erreichen, dass die Ströme vom Bahnsteig unkompliziert zum Ort der Registrierung gelangen. Entsprechend war der Starnberger Flügelbahnhof, ein Teil des Hauptbahnhofs, gestaltet. Nicht zu vergessen die Zelte vor dem Bahnhof für Aufenthalt und medizinische Versorgung. Die Innere Mission hat wirklich hervorragende Arbeit geleistet.

"Hat mich bewegt": Flüchtlinge kämpften trotz Erschöpfung

Sie sagten gerade, es sei damals vieles zusammengekommen: eine funktionierende Bürokratie, eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Was hat noch dafür gesorgt, dass die Situation nicht komplett aus dem Ruder lief?

Spahn: Ein Grund ist für mich ganz klar bei den Geflüchteten selbst zu sehen. Es hat mich wirklich bewegt, welche enormen Ressourcen hier spürbar waren. Auch, wie dankbar viele waren, sich willkommen und sicher fühlen zu können. Es war beeindruckend, wie sehr diese Menschen, die doch alles verloren hatten, das Beste aus der Situation machen wollten, wie sie im Großen und Ganzen trotz der Erschöpfung weitergekämpft haben. Für sich, für die Familie. 

Im Großen und Ganzen?

Spahn: Vereinzelt gab es schon auch Menschen, die an ihre Grenzen kamen – und darüber hinaus. Gerade für diese Menschen haben wir uns als Bahnhofsmission verantwortlich gefühlt. Ihnen wollten und wollen wir einen Schutzraum bieten. Einen Ort, an dem man zumindest mal kurz loslassen kann. Da haben wir sehr gut mit den Kolleginnen und Kollegen von der Inneren Mission zusammengearbeitet.

Bahnhofsmission München
Die Münchner Bahnhofsmission hat auch 2022 zahlreiche Geflüchtete aus der Ukraine betreut. IMAGO / ZUMA Press Wire

Wie kann man sich diesen Ort, Ihre Bahnhofsmission, konkret vorstellen?

Spahn: Bei uns, an Gleis 11, gibt es drei Beratungsbüros und einen Aufenthaltsraum, der nachts auch Schutzraum für Frauen ist. Alles ist recht einfach gehalten. Die Bahnhofsmission ist ein Haltepunkt, ein Schutzraum und ein Transitort. Daher haben wir, wie es so schön heißt, neben den Schritten zu uns hin immer auch die Schritte von uns weg im Blick.

"Die Menschen waren vor allem eines: still"

Viele Geflüchtete sind bestimmt traumatisiert. 

Spahn: Das stimmt. Und während sich die einen trotz allem spürbar auf ihre Ressourcen besinnen, gibt es immer auch solche, die dazu zumindest vorübergehend nicht in der Lage scheinen. Kurz: Menschen, denen es sehr, sehr schlecht geht. Ich hatte den Eindruck, dass viele nach Tagen, Wochen oder vielleicht sogar Monaten des Unterwegsseins zum ersten Mal loslassen konnten. 

Der Schutzraum war also ein Ort der Emotionen?

Spahn: Natürlich sind hier und da Tränen geflossen, doch die Menschen waren vor allem eines: still. Die Zusammenbrüche, die wir erlebt haben, waren eher ein Implodieren, kein Explodieren.

"Ich konnte nichts tun, um dieser Frau zu helfen"

Wie erklären Sie sich das?

Spahn: Unter anderem durch die Verantwortung, die man ja gerade als Elternteil trotz aller Belastung durch die Flucht weiterhin hat. Ich erinnere mich an eine junge Frau aus Syrien, sie hatte ihre beiden eigenen Kinder und das Kind ihres Bruders bei sich. Die Frau war einige Stunden lang bei uns, es ging ihr ganz offensichtlich nicht zuallererst um materielle Versorgung. Materiell schien die kleine Familie vergleichsweise gut dazustehen. Aber die Grundanspannung dieser Frau, die hat mich überwältigt. 

Inwiefern?

Spahn: Die Frau saß ganz still mit den Kindern auf der Bank und wirkte gleichzeitig, als sei sie jederzeit zum Sprung bereit. Ihr ganzer Körper stand unter Dauerstrom. Das war einer der Momente, in denen ich an meine Grenzen kam. Ganz einfach, weil ich gemerkt habe: Ich kann nichts tun, um dieser Frau zu helfen. Um ihr diese wahnsinnige Anspannung, diese unvorstellbare Angst zu nehmen. Ich kann nicht mehr tun, als das mitauszuhalten. Da zu sein, meine Arbeit zu machen und die Tür offen zu halten.

Plötzlich weinte eine Polizistin in der Bahnhofsmission

Was macht sowas mit den Helfenden?

Spahn: Gute Frage. Ich erinnere mich an eine junge Bundespolizistin. Sie kam eigentlich wegen einer organisatorischen Frage in mein Büro. Dann hat sie aber angefangen zu weinen. Die enorme Belastung, auch emotional, brach heraus.

Stichwort Mehrbelastung – das traf vermutlich auch auf die Mitarbeitenden Ihrer Bahnhofsmission zu?

Spahn: Sicher, der Normalbetrieb lief schließlich ganz normal weiter. Das Ankommen der vielen Geflüchteten kam sozusagen obendrauf. 

Was bedeutet "Normalbetrieb"?

Spahn: Wir hatten damals um die 500 Kontakte zu Hilfesuchenden pro Tag. Kontakt heißt, jemand kommt durch die Tür. Für ein Essen, für eine Tasse Tee, für ein Beratungsgespräch. In den vergangenen Jahren haben unsere Kontakte noch mal erheblich zugenommen. Vielleicht hat damals schon die Zeitenwende begonnen, von der seit der Coronakrise gesprochen wird.

"Ich fand es gut, dass Merkel den Satz gesagt hat"

Einige argumentieren, die aktuelle Situation sei auch ein Ergebnis der Ereignisse über die wir hier gerade sprechen. Deutschland habe zu viele Flüchtlinge aufgenommen. Und: Die Politik habe Fehler gemacht.

Spahn: Falls Sie auf die Äußerung von Angela Merkel anspielen – "wir schaffen das" – muss ich sagen: Ich fand es gut, dass sie das gesagt hat. Deutschland hatte eine historische Chance, sich zu zeigen. Ist nicht das Grundgesetz dadurch noch mal neu ins Leben gekommen? 

Sie meinen den Artikel 16a, Absatz 1, der zum Ausdruck bringt, dass Deutschland seine historische und humanitäre Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen erfüllen will?

Spahn: Ich hätte mir so gewünscht, dass dieses großartige Fundament, diese Werteordnung und diese Lebenshaltung nie mehr reguliert und relativiert werden. Für mich war der Satz von Angela Merkel authentisch und glaubhaft. Ich habe da durchaus auch die Prophezeiung von Veränderung, die Herausforderung und eine riesige Anstrengung herausgehört. 

Soll heißen, der zum Ausdruck gebrachte Optimismus der Kanzlerin war aus Ihrer Sicht nicht zu kurz gedacht oder gar naiv?

Spahn: Nein. Angela Merkel hat schließlich nie gesagt: "Hallo Geflüchtete auf der ganzen Welt, kommt alle zu uns nach Deutschland." Es ging ihr ganz konkret um die Menschen, die aus Ungarn kamen und die an den deutschen Außengrenzen standen. Im Nachhinein ist die Kanzlerin dann aber für die weltweite Flucht- und Migrationsbewegung in den letzten Jahren verantwortlich gemacht worden. Ist das fair?

"Arbeit ist für mich ganz klar eine Stellschraube der Integration"

Was hätte besser laufen können?

Spahn: Vielleicht hätte es für die weiteren Schritte nach der Ankunft am Hauptbahnhof zügiger eine politisch vereinbarte Gesamtstrategie gebraucht, auf der Grundlage eines gemeinsamen Ziels aller Akteure. 

Wie hätte eine Strategie aus Ihrer Sicht aussehen können?

Spahn: Ganz grundsätzlich: Krisen sind Phasen der Entscheidung, es gilt, Schritt für Schritt zu gehen und sich zuständig zu fühlen. Unsere Katholische Bahnhofsmission ist vergleichsweise klein und hat natürlich nicht die Dimension von politischer Verantwortung, insofern bin ich zurückhaltend, diese Zeit zu bewerten. Und doch sind mir die persönlichen Ressourcen und das Potential, mit dem damals viele Menschen kamen, noch sehr präsent. Die Frage ist doch: Inwieweit greift man das auf? Und inwieweit nicht?

Heißt konkret?

Spahn: Die Erwerbsfähigkeit ist für mich ganz klar eine Stellschraube der Integration. Wer arbeitet, lernt die Sprache, lernt, sich in Alltagsprozesse einzufinden und sich einzubringen. Stichwort Verantwortungsübernahme, Stichwort Teilhabe. Wenn ich mich wie gesagt an die Willenskraft erinnere, die ich damals in so vielen Gesichtern wahrgenommen habe und wenn ich dann höre, dass Geflüchteten pauschal unterstellt wird, sie würden nicht arbeiten, nichts beitragen, nur nehmen wollen – dann stimmt mich das mehr als nachdenklich. Vielleicht ist in diesem Punkt das Asylrecht ein "Grenzzaun"?

"Auf keiner Ebene habe ich mich damals überfordert gefühlt"

Was wünschen Sie sich?

Spahn: Dass wir uns an dieser Stelle an unser christlich-humanitäres Menschenbild erinnern. Ich glaube, wir sollten uns schon mal fragen, ob dieses Fundament noch zählt. Oder ob wir rückwärts gehen. Ich jedenfalls sehe in so mancher politischen Äußerung in diesen Tagen, ich kann es nicht anders sagen, Parallelen zur Zeit von vor hundert Jahren. 

Sie klingen besorgt.

Spahn: Na ja, wir wissen doch, was daraus entstanden ist. Daher, wenn Sie mich fragen: Ich finde, es war richtig, wie in 2015 entschieden wurde. Auf keiner Ebene habe ich mich damals überfordert gefühlt – vielleicht auch, weil damals unsere Werteordnung sichtbar wurde. Das hat mich bestärkt und mir auch die nötige Sicherheit gegeben.