Überlebenskämpfer an den Münchner Kammerspielen: Jan-Christoph Gockel inszenierte „Der Sturm / Das Dämmern der Welt“
An den Münchner Kammerspielen hat Hausregisseur Jan-Christoph Gockel „Der Sturm / Das Dämmern der Welt“ nach William Shakespeare und Werner Herzog inszeniert. Unsere Premierenkritik:
Wenn der „Krieg ausbricht“, wie ja gerne gefloskelt wird, war der Friede offenbar ein Gefängnis. Dabei hat der Krieg nie aufgehört – nicht für die Welt und schon gar nicht für den japanischen Soldaten Hiroo Onoda, der von der Kapitulation seines Landes Anfang September 1945 nichts mitbekommen hatte und im Dschungel der unbedeutende Insel Lubang die Stellung hielt. Bis sein einstiger Vorgesetzter 1974 nochmals nach Lubang flog und Onoda befahl, sich zu ergeben. Der Filmemacher und Autor Werner Herzog, 1942 in München geboren, erzählt diese wahre Geschichte in seinem spannend vorwärtstreibenden, dabei zugleich entrückt auf der Stelle tretenden Roman „Das Dämmern der Welt“ aus dem Jahr 2021.
Jan-Christoph Gockel inszenierte „Der Sturm / Das Dämmern der Welt“ in München
An Münchens Kammerspielen hat Hausregisseur Jan-Christoph Gockel diese Geschichte nun zusammengespannt mit Shakespeares letztem Drama „Der Sturm“, das 1611 uraufgeführt wurde. Am Freitag (15. Dezember 2023) war Premiere des knapp drei Stunden langen Abends (eine Pause). Den Werken ist dabei nicht nur das Inselmotiv gemein. Beide, Shakespeares vertriebener Herzog Prospero und Japans versprengter Soldat Onoda, sind zugleich Herrscher und Gefangene ihres Eilands; beide hängen sie in ihrem Wahn fest. Zugleich verkörpern sie gegensätzliche Positionen. Hier zaubert der Geistesmensch Prospero, der die Welt aus sich heraus erschafft – dort kämpft Onoda, der ganz Körper, ganz Handlung ist: „Ich habe hundertundelf Hinterhalte überlebt. Ich bin angegriffen worden, wieder und wieder.“ Vor allem auf diesen letzten Gedanken konzentriert sich die Inszenierung, deren Textfassung Gockel gemeinsam mit Dramaturg Claus Philipp erstellt hat und für die sie außerdem ein bisschen was von Kant und Müller sowie recht viel aus Herzogs Erinnerungen „Jeder für sich und Gott gegen alle“ (2022) verwendet haben.
Der Filmemacher, dessen Schaffen wie ein Felsblock aus vergangenen Tagen in der Kulturlandschaft steht und den immer schon die Extreme künstlerisch gereizt haben, wurde dabei zur dritten Hauptfigur. Bernardo Arias Porras spielt diesen selbst ernannten (und sich selbst ziemlich gut findenden) „Soldaten des Kinos“ mit wohltuend humorvoller Distanz an der Grenze zur Karikatur. Durch diesen Protagonisten freilich erfährt „Der Sturm / Das Dämmern der Welt“ eine weitere Spiegelung. Schließlich hat sich Shakespeare in Prospero selbst porträtiert, als Künstler kurz vor der Rente in Stratford.
Michael Pietsch hat die Marionetten für „Der Sturm / Das Dämmern der Welt“ gebaut
Eine Insel markiert den Beginn der Inszenierung: Julia Kurzweg hat die Bühne leer geräumt und das Ensemble auf dem Podest der Live-Band versammelt: Von hier aus bricht der Sturm los – musikalisch eine Wucht, darstellerisch ein Wirbeln, das alle Marionetten heftig durch die Gegend wirft und zerstört. Erneut hat Michael Pietsch diese Puppen für Gockel gebaut; er führt sie gemeinsam mit den Darstellerinnen und Darstellern. Dieses Zusammenwirken von Mensch und Material nimmt nicht nur die Idee der Schöpfung einer eigenen Realität aus beiden Texten auf, sondern sorgt für so düstere wie poetische Bilder.
An denen hat auch der Regisseur Gefallen gefunden. Je länger sein Abend dauert, der durch eine beherzte Straffung nochmals an Intensität gewonnen hätte, desto knapper handelt Gockel Shakespeares Drama ab. Ihn interessieren vor allem die Abgründe des Menschseins, von denen Herzog berichtet. Und das bedeutet: der Krieg, der für Hiroo Onoda so lange nicht aufgehört hat. Die chronologische Aufzählung aller bewaffneter Konflikte seit 1945 schlägt einen zwar bitter wahren, doch eben auch recht platten Bogen in die Gegenwart. Dass es subtiler, bissiger geht, zeigt das Zwischenspiel von Katharina Bach, die als Luftgeist Ariel einen Zweitjob in der Dschungel-Bar „Zum ewigen Frieden“ angenommen hat, wo sich einst ein gewisser Immanuel die Kante gab.
Bach, Bernardo Arias Porras und Thomas Schmauser sowie die großartige, sehr präsente Musik von Maria Moling und Anton Berman ankern diese Arbeit, als sie im Assoziationsstrudel der Regie zu kentern droht. Oder, um es mit Werner Herzogs Fitzcarraldo zu sagen: „Ich bin das Schauspiel im Wald.“ Heftiger Applaus, einzelne Buhs für die Regie.