Gastbeitrag von Dirk Ziems - „Deutschland-Psychogramm“ offenbart, wie wir wirklich über Israel und Hamas denken
Was genau heißt „Staatsräson Israel“?
Einhelliger Tenor der deutschen Befragten ist eine innere Zerrissenheit: Man sympathisiert mit den Israelis, hofft zugleich aber, dass sie sich bei ihren Militäraktionen zurückhalten und kein Flächenbrand entsteht. Man leidet aber auch mit den palästinensischen Zivilopfern und kann den Standpunkt pro Palästina nachvollziehen, wobei man sich deutlich von den Hamas-Terroristen absetzt. Die viel beachtete Rede von Vizekanzler Robert Habeck schien einen Weg für eine ausgewogene und konsequente Positionierung für die deutsche Verantwortung zu weisen.
Doch wenn wir in unseren Interviews genauer nach dieser Rede fragen, verstricken sich die meisten in Widersprüche und unklar bleibt, was „Staatsräson mit Israel“ überhaupt bedeutet: „Wir fühlen uns als Deutsche schon verpflichtet, wissen aber nicht genau wozu“, so der Tenor. Es gilt für den Krieg in Nahost wie auch schon für die Ukraine - angesichts der multiplen Krisen und Kriege - das deutsche Prinzip: „Um jeden Preis einmischen sollten wir uns auf keinen Fall.“
Das Trauma des Holocausts hat sich wiederholt
Jüdische Befragte im Panel empfinden diese Position als „halbherzig“ bis „kaltherzig“. Ihr Standpunkt: „Was sind die ganzen Holocaust-Rituale wert, wenn das ‚Nie-wieder‘ doch nicht zählt, sobald es wirklich darauf ankommt? Die Hamas will die Juden auslöschen, nicht anders als die Nazis. Aber die Intellektuellen in Deutschland schweigen dazu.“
Hintergrund des Mangels an Empathie ist auch das Unwissen vieler Deutscher. Ihnen ist nicht bewusst, dass Juden weltweit die Hamas-Terror-Attacken als historischen Epochenbruch erlebt haben. Mit dem Massaker an jüdischen Zivilisten hat sich für die Juden das Trauma des Holocausts wiederholt. Erstmals in der Geschichte ist die Schutzfunktion des Staates Israel infrage gestellt und Juden weltweit drohen, wieder wehrlos der Verfolgung ausgesetzt zu sein.
Zentrale Erkenntnis des „Deutschland-Psychogramm“: Eine „Staatsräson“ lassen sich die Deutschen nicht verordnen. Und noch ein weiterer Einblick in das kollektive Mitgefühl der Nation ergibt sich aus der Studie.
Immer mehr Krisen umzingeln Bürger
Die Überforderung der Bevölkerung durch diverse Krisen (Corona, Klima, Inflation) und nun auch Kriege (Ukraine, Israel) geht in eine neue Belastungsstufe über, die nach anfänglicher Schockstarre zu einer Abstumpfung führt. Viele wollen nichts mehr hören vom Krieg. Sie halten sich - wie Kinder bei einem Horrorfilm - die Augen zu oder schauen bestenfalls durch einen Spalt zwischen ihren Fingern auf die Kriege.
Entsprechend entwickeln die meisten Befragten auch keine rational-abgewogenen konsistenten Haltungen und Standpunkte zu den Kriegen, sondern bestenfalls eine fluktuierende Empathie mit den Menschen in der Ukraine oder in Israel – je nachdem, welche Erregungsbilder sie in den Medien punktuell wahrnehmen. Dies äußert sich besonders bei den Fragen nach Waffenlieferungen für die Ukraine und mehr Solidarität mit Israel. Weder eine konsistente Solidarität mit Israel noch mit der Ukraine herrscht in der deutschen Bevölkerung. Es ist eher eine Minderheit, die kämpferische Positionen pro Israel oder pro Palästina vertritt. Die Mehrheit schweigt und rettet sich ins Private, Heimelige, Unpolitische.
Die Krisen und Kriege unserer Zeit verdichten sich zu einem multiplen Krisenszenario, das die Bürgerinnen und Bürger von allen Seiten umstellt: eine neue Weltordnung der Instabilität, der Gewalt und des Chaos verbunden mit innerer Destabilisierung und Radikalisierung, gepaart mit sich verdüsternden Aussichten in Bezug auf wirtschaftliche Perspektiven in Deutschland und generellen Zweifeln an der Zukunftsfähigkeit des Landes.
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In der Merkel-Ära wurden Krisen befriedet, in der Regierungszeit Scholz stapeln sie sich auf
Während in der Merkel-Ära der Anschein gewahrt blieb, dass einzelne Krisen in einer Sukzession nach einiger Zeit zumindest beruhigt und befriedet wurden, macht sich in der Regierungszeit von Kanzler Scholz der Eindruck breit, dass sich die Krisen aufstapeln, wechselseitig verstärken und in Eskalationskaskaden miteinander vernetzen. Und das allen Scholzschen Bekundungen von ‚sehr historischen Entscheidungen“‘, ‚Bazooka‘ und ‚Doppelwumms‘ zum Trotz.“
Die Folge: Selbst diejenigen unter den Befragten, die den Anspruch pflegen, sich mit Politik-Nachrichten und Hintergrundberichten sachlich und detailliert zu informieren, geraten in den Strudel der Überforderung. Tenor: Ich muss mich mal für ein paar Tage von allen Nachrichten abkappen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Eine Erkenntnis des „Deutschland-Psychogramm“ sollte Politikerinnen und Politikern besondere Sorgen bereiten: An baldige Lösungen bei den Kriegen und Krisen oder eine wirkliche Beruhigung glaubt niemand mehr. Hoffnung haben die Menschen nur noch vage. Das ist kein Vertrauensbeweis für das Krisenmanagement der Ampel-Regierung und für die Politik generell.