Die Reichsbürger-Szene wird größer und organisiert sich. Zuletzt gab es Razzien vor allem im Südwesten Deutschlands. Dafür gibt es Gründe, sagt ein Experte.
Berlin/Stuttgart – Der Weltuntergang passierte im Schwabenland. Da, wo heute im Nördlinger Ries ein paar Dörfer rund um die Stadt Nördlingen liegen, ist vor 15 Millionen Jahren ein riesiger Meteorit auf die Erde gekracht. Der Einschlag war auf der ganzen Welt zu hören. Die Folgen: Das Land wurde durch den Einschlag buchstäblich umgekrempelt. Mehr dramatische Symbolik kann man sich als Reichsbürger wohl kaum wünschen, wenn man einen Kongress plant. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sich die Szene jüngst ausgerechnet in einem Tagungshotel im schwäbischen Wemding am Rand des Meteoritenkraters getroffen hat, um über die Neuordnung Deutschlands zu diskutieren. Die Reichsbürger-Szene organisiert sich, wird professioneller. Zulauf bekommt sie aktuell im Südwesten der Republik.
Reichsbürger-Razzia: Schwerpunkt in Baden-Württemberg und Bayern
Kurz nach dem Kongress durchsuchte die Polizei bei einer Razzia gegen Reichsbürger Häuser und Wohnungen in mehreren Bundesländern, die meisten davon in Westdeutschland. Die Beamten fanden eine Schreckschusswaffe, Reizstoffgeräte und Datenträger, die nun ausgewertet werden. Zentrum der Aktion: Bayern und Baden-Württemberg. Im Osten wurde lediglich ein Objekt in Brandenburg untersucht. Ist die Szene ein westdeutsches Problem? Der Extremismus-Experte und Soziologe Johannes Kiess von der Uni SIegen sagt: „Das ist ein Phänomen in ganz Deutschland, auch im Osten.“ Immerhin hatte in Sachsen-Anhalt Reichsbürger Peter Fitzek einst das „Königreich Deutschland“ ausgerufen, und auch in Thüringen und Sachsen gibt es immer wieder Szene-Treffen.
Esoterische Strömungen und Antisemitismus
Aber: „In einigen Gegenden in Süddeutschland gibt es seit Jahrzehnten Tendenzen, die das begünstigen. In Baden-Württemberg gibt es Strömungen, die nicht unbedingt zum Bild vom idyllischen Ländle passen, das man so hat.“ So gebe es in dem Bundesland im Vergleich zum Rest der Republik eine große evangelikale Szene, anthroposophische Tendenzen und eine lange Tradition der Waldorf-Pädagogik. Die Anthroposophie geht auf den österreichischen Reformpädagogen Rudolf Steiner zurück, der im frühen 20. Jahrhundert im Raum Stuttgart großen Einfluss hatte und von Industriellen gefördert wurde. Er entwickelte eine esoterisch angehauchte Weltanschauung, die auch durchdrungen ist von Rassismus und Antisemitismus.
„All das begünstigt Querdenker-Strömungen, die zumindest auf Distanz zur demokratischen Grundordnung gehen“, sagt Experte Johannes Kiess. Laut Bundesverfassungsschutz waren der Reichsbürger-Szene im Jahr 2022 rund 23.000 Menschen in Deutschland zuzurechnen, gut 4.000 allein in Baden-Württemberg. In keinem Bundesland gibt es mehr. Reichsbürger zweifeln die Existenz der Bundesrepublik Deutschland an, wollen einen eigenen Staat schaffen. Jeder zehnte von ihnen gilt als gewaltbereit, viele davon sind Rechtsextremisten. Wenn Menschen sich extremistischen Ideologien zuwenden, wird als Erklärungsansatz oft ein Gefühl des „Abgehängtseins“ in strukturschwachen Regionen angeführt. Baden-Württemberg aber gehört zu den Bundesländern mit der höchsten Wirtschaftskraft, das passt nicht ins Bild. „Es geht Reichsbürgern nicht unbedingt um persönliche materielle Benachteiligung, sondern eher um das Gefühl, dass eine Krise herrscht und das demokratische System daran Schuld ist“, erklärt Kiess.
Zahl der Reichsbürger wächst stark an
Derweil wächst die Zahl der Reichsbürger deutschlandweit stark an, innerhalb eines Jahres waren 2022 gut 2000 Menschen zur Szene dazugekommen. Krisen wie Corona, Kriege in Europa und die Inflation würden manche Menschen dazu bringen, in den Extremismus abzutauchen, sagen Experten. Dazu kommt: „Seit 2016 nehmen die Sicherheitsbehörden das Phänomen sehr viel ernster und schauen genauer hin“, so Kiess. Damals hatte ein Reichsbürger im bayerischen Georgensgmünd einen Polizisten erschossen und drei weitere verletzt. Die einstige Dunkelziffer werde seitdem erhellt, so Kiess.
Reichsbürger betreiben Kampfsportschule: Vorbereitung auf den Straßenkampf
Der Fall von 2016 machte auf tragische Weise klar: Die Reichsbürger sind keine harmlosen Spinner. „Bewaffnung ist ein großes Thema in der Szene. Einerseits gibt es bei vielen ein Interesse an alten Militaria. Andererseits haben manche die Idee, dass sie sich auf einen Kampf vorbereiten müssen.“ In Düsseldorf gibt es mitten in der Innenstadt gar eine eigene Kampfsportschule, die zum sogenannten „Königreich Deutschland“ gehört. Sie wird von Reichsbürgern betrieben, die auch Seminare zum „Systemausstieg“ geben. Wollen die Reichsbürger einen bewaffneten, wehrhaften Arm schaffen? Das spiele durchaus eine Rolle, so Kiess. „In Kampfsportschulen bereiten sie sich aber nicht nur auf den Straßenkampf vor, sondern haben dort auch einfach eine identitätsstiftende Gruppe. Das ist kopiert von der Neonazi-Szene, dort sind Kampfsportgruppen gang und gäbe.“