Was ich bei RWE gegen den BVB sah, ist bei normalen Spielen heute undenkbar
Lothar (67) hat zwei Stunden vor dem Spiel kein gutes Gefühl: „Wir wissen nicht, wo wir stehen. Bei den Transfers sind wir auch noch nicht in die Pötte gekommen. Bei uns wird es holpern“, sagt der BVB-Fan. Auch für seinen Sohn Moritz (26) ist das Schlagerspiel der ersten DFB-Pokalrunde kein Selbstläufer: „RWE hat Chancen“.
Till (26) und Laszlo (30) wäre das recht. Sie haben ein bisschen Bammel vor den großen Namen, die in zwei Stunden in ihrem Essener Stadion einlaufen werden.
Was bei RWE gegen den BVB passiert, ist bei normalen Spielen undenkbar
„Mit einer frühen Führung für uns könnte vielleicht etwas gehen“, sagt Till. Die Rot-Weiß Essen-Fans und die beiden Dortmunder haben sich soeben vor dem Kult-Treff Hafenstübchen im Schatten der Flutlichtmasten an der Hafenstraße kennengelernt.

Gegnerische Fans im Hauptquartier der Essener? Bei normalen Spielen undenkbar. „Das ist eben Fan-Freundschaft“, sagt Lothar. Vor dem Hafenstübchen steht auch ein zwei Meter großer Schlaks mit Fischer-Hütchen. Es ist Richard Golz, Vater von RWE-Keeper Jakob Golz.
Der frühere Bundesliga-Torwart des HSV und des SC Freiburg trinkt mit seinem Kumpel Andreas Rettig, DFB-Geschäftsführer Sport, ein Bierchen. „RWE gegen Dortmund ist wahrscheinlich das einzige Spiel im Pott, zu dem Du entspannt hingehen kannst. So sollte es eigentlich immer sein“, sagt Golz.
Er sieht die Entwicklung seines Sohnes ebenso positiv wie die des Vereins: „RWE hat sich sehr stabilisiert, der Verein ist vertrauenswürdig geworden.“ Ob es aber schon für den großen BVB reicht? Andreas Rettig, RWE-Mitglied seit 2010, legt sich als einziger vor dem Hafenstübchen fest: „Hoch gewinnen werden wir nicht.“

Stilles Gedenken und stürmischer Beginn
Es ist ein Spiel David gegen Goliath. Beide Ruhrpott-Klubs haben den deutschen Fußball geprägt. In den 50ern noch im Gleichschritt. Aber der heutige Unterschied könnte größer nicht sein: Essen war 1955 Deutscher Meister, es war der bislang letzte Titel an der Hafenstraße.
Dortmund gewann seitdem sechs Meisterschaften, den Europapokal der Pokalsieger, die Champions League und fünfmal den DFB-Pokal, den zum letzten Mal vor vier Jahren.
Das Spiel beginnt in Stille. Die Menschen auf den Rängen und die Spieler auf dem Rasen (alle mit Trauerflor am Arm) gedenken in einer Schweigeminute dem kürzlich verstorbenen Weltmeister von 1990, Frank Mill, der seine Stürmer-Karriere in Essen begonnen und mit dem BVB 1989 den deutschen Pokal gewonnen hatte.
Man musste Schlimmes befürchten als Essener
Dann wird es allerdings stürmisch. Die Fans an der Hafenstraße, ohnehin nicht für stille Kammermusik bekannt, singen, was die Kehlen und Stimmbänder hergeben. Borussia Dortmund antwortet mit einem Feuerwerk auf dem Platz.
In den ersten vier Minuten muss der erst gerade wieder genesene Jakob Golz schon zweimal tief abtauchen, um zu verhindern, dass die große Euphorie auf den Rängen schon gleich zu Beginn abgewürgt wird. Man durfte Schlimmes befürchten, sofern man mit den Rot-Weißen hielt.
Der gerissene Trick des Uwe Koschinat
Die Essener Fans tun das einzig Richtige: Sie bejubeln jede noch so kleine gelungene Aktion, so zum Beispiel als José-Enrique Rios Alonso den Ball in höchster Not vor dem einschussbereiten Guirassy zur Ecke klärt.
So hatte es RWE-Trainer Uwe Koschinat in der Pressekonferenz am Freitag vor dem Spiel gefordert: Um das Fußball-Wunder zu schaffen, „brauchen wir die Menschen im Rücken, die jede noch so kleine positive Aktion in Energie ummünzen.“
Eine Kampfansage sollte das nicht sein, betonte der 53-Jährige ausdrücklich. „Auf dieses Glatteis“ wollte er sich nicht begeben, sagte Koschinat. Der BVB sei „eine absolute europäische Topmannschaft und einer der ganz großen Repräsentanten des Deutschen Fußballs“.
Eine Kampfansage „verbiete sich schon auf der Basis der Qualität der Dortmunder“, die „ein tolles Turnier in Übersee gespielt haben“. Koschinat schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, seinen Respekt vor dem übermächtig erscheinenden Gegner auszudrücken.
Wer bei dem gerissenen Fuchs aber genau hinhörte, dem fiel auf, dass er in seine Antworten auf die Fragen nach einer möglichen Überraschung doch so etwas wie Hoffnung hineinmassierte: „Es ist einfach ein Riesenspiel, und wir wissen, dass wir für den Klub etwas Riesiges leisten können“. Keine Kampfansage hört sich hier an wie das erfolgreiche deutsche Plattenlabel für elektronische Musik „Keinemusik“.
"Noch nie erlebt, dass die Dortmunder leiser sind als der Gegner"
Und siehe da, ab der 20. Minute wird RWE plötzlich frecher: Safi schießt erstmals aufs Tor von Kobel. Ein Warnschuss, wie sich schnell herausstellt.
Denn bereits drei Minuten später stehen alle Essener auf ihren Rängen und halten entweder den Atem an oder kreischen: Der pfeilschnelle Ramien Safi lässt mit einer Körpertäuschung den algerischen Nationalspieler Rami Bensebaini stehen, will quer legen, aber Waldemar Anton funkt dazwischen.
Plötzlich gibt es RWE-Angriffe alle paar Minuten
Es folgen RWE-Angriffe im Minutentakt. In der 27. Minute zieht der aufgerückte Rechtsverteidiger Jannik Hofmann ab, knapp am rechten Pfosten vorbei. Einige Zuschauer reiben sich verwundert die Augen, wer ist hier nochmal der Underdog? Und in der 32. Minute schlägt es fast ein. Kaito Mizuta prüft Kobel mit einem Gewaltschuss.
Auf der anderen Seite verhindert RWE in der 36. Minute mit Mann und Maus und einem bärenstarken Jakob Golz das 0:1 durch Maxi Beier. Und in der 43. Minute rast Ramien Safi mit Mach 3-Geschwindigkeit auf BVB-Keeper Gregor Kobel zu und muss das 1:0 machen, doch Kobel pariert glänzend. Was wohl Schlitzohr Franky Mill in dieser Szene gemacht hätte?
Was für ein Match. Es ist genau das Spiel, auf das Koschinat gehofft und vor dem sich BVB-Coach Niko Kovac gefürchtet hatte: RWE wächst über sich hinaus. Es entwickelt sich ein rassiger Pokalfight, die Hafenstraße bebt.
Eine Reporter-Kollegin sagt: „Egal, wo ich war. Ich habe noch nie erlebt, dass die Dortmunder Fans leiser waren als die Gegner.“
Und während sich bei solchen Konstellationen die „Fans“ beider Lager für gewöhnlich gerne als Söhne von Damen des horizontalen Gewerbes titulieren, singen beide Parteien nur „scheiß FC“. Gemeint ist nicht der Klub vom Rhein.
0:0 in der Halbzeit. Die erste Überraschung ist gelungen. Frank Mill, dessen Familie im Stadion sitzt, hätte seinen Spaß gehabt.
Hans Hofmann hatte es schon am Nachmittag geahnt: „Im Pokal ist alles möglich“, sagte der 74-Jährige RWE-Fan in einem Café am Limbecker Platz. Das letzte Pflichtspiel hatten die beiden Revier-Rivalen am 9. August 2008 ausgetragen. Damals schied RWE mit 1:3 in der ersten Runde des DFB-Pokals gegen den BVB aus. Die Dortmunder wiederum scheiterten vor genau 20 Jahren zum letzten Mal in der 1. Runde: mit einem 1:2 gegen Eintracht Braunschweig.
Eine lange Zeit liegt diese Sensation auch an diesem 18. August an der Hafenstraße in der Luft. Vor allem aber liegt erstmal Pyrogeruch in der Luft. Der Essener Stadionsprecher kann wahrscheinlich noch die nächsten 50 Jahre darum bitten, das Feuerwerk den Spielern zu überlassen. Ändern dürfte sich nichts.

Was ist eigentlich in der zweiten Halbzeit fußballerisch los? Dortmund kommt sichtlich beeindruckt aus der Kabine, Guirassy verstolpert ungewohnt viele Bälle, der BVB bringt kein Aufbauspiel zustande, und Bensebaini weiß sich nur durch Fouls gegen Safi zu wehren.
Es gibt nicht einen Hassgesang, nicht eine hörbare Beleidigung
Ab der 56. Minute dreht RWE wieder auf: Eine Monstergrätsche von Moustier bringt Lukas Brumme auf der linken Seite ins Spiel. Dem ist es völlig egal, ob ein Verteidiger vom SC Verl oder Yan Couto vom Klub-WM-Teilnehmer Dortmund vor ihm steht: Er setzt zu einem seiner gefährlichen Flankenläufe an und holt eine Ecke heraus.
Bemerkenswert: Es gibt nicht einen Hassgesang, nicht eine hörbare Beleidigung, es wird einfach nur Fußball gespielt. Und das mit einer Hingabe von beiden Mannschaften, die Fußball an diesem Abend unter Flutlicht an der Hafenstraße zum besonderen Erlebnis werden lässt.
Wie hatte Koschinat auf der Pressekonferenz noch gesagt: „Aber am Ende muss jeder Einzelne für sich die Überzeugung in sich tragen, an diesem Tag Paroli bieten zu können.“ Das taten die Essener. Es war über weite Strecken kaum ein Klassenunterschied zu erkennen.
Ganz am Ende hat der BVB dann noch Riesenglück
Und auch nach dem sehenswerten 0:1 in der 79. Minute durch Serhou Guirassy spielen die Essener weiter, als sei nichts gewesen. Und die Fans? Springen und singen nach dem Rückstand noch lauter, wobei man sich wundert, wie das überhaupt möglich sein kann.
Und der BVB? Irgendwie enttäuschend: viele Abspielfehler, wenig Ideen, kaum Torchancen, viele Fouls. Kovac scheint sich an der Seitenlinie gar nicht mehr einkriegen zu wollen. Er gestikuliert, er schimpft, er pfeift, er winkt ab – es nutzt alles nichts. Dortmund wurschtelt sich durch. Und hat in der 92. Minute Riesenglück, als Mane den einköpfbereiten Martinovic am Kopf trifft und der Schiedsrichter weiterspielen lässt.
Kurzfristig kocht die Stimmung doch nochmal hoch, die pawlowschen Reflexe des gemeinen Fußballfans setzen sogar die Fan-Freundschaft temporär außer Kraft, aber das Gute siegt.

Eine bessere Werbung für alles Schöne, Rassige, Spannende und Verbindende, was dieser Sport zu bieten hat, kann es nicht geben als diesen Abend im Stadion an der Hafenstraße. Frieden auf der Welt ist möglich: Beide Fanlager feiern ihre Teams minutenlang mit donnerndem Applaus. Eine gelungene Aufführung. Wann gibt es so etwas schon mal?
„Auf geht´s Essen, kämpfen und siegen“, singt die Essener Südkurve noch lange nach Spielende, und die RWE-Matadoren holen sich Applaus ab, als hätten sie gerade den Aufstieg in die 2. Liga geschafft.
Viele Fans harren noch so lange aus, bis auch der letzte RWE Spieler sein Interview gegeben hat. „Ganz stark“, rufen die Unentwegten Ahmet Arslan zu, als der endlich um 23 Uhr in die Kabine gehen durfte.
Seit dem Aufstieg in die 3. Liga vor drei Jahren war es jedenfalls das stärkste Spiel von RWE, meint RWE-Fan Laszlo. Dennoch sitzt die Enttäuschung bei ihm und den Essenern in der ausverkauften Hafenstraße tief, wie er FOCUS online erzählte: "Wir trauern der riesigen Chance von Safi zum 1:0 hinterher. Schade, dass Dortmund das durch eine einzige Chance entschieden hat. Es war definitiv mehr drin."
Und Hans Hofmann hatte beinahe Recht behalten: „Im Pokal ist alles möglich.“ Auch BVB-Fan Lothar hat sein Gefühl nicht getrogen: „Es wird holprig“, sagte er am Hafenstübchen vor dem Spiel. Und danach? "Es war ein Arbeitssieg, eine Einzelaktion hat das Spiel entschieden. Genauso schwierig hatte ich es mir vorgestellt".