Holzkirchnerin (104) erinnert sich an Luftkrieg und Besatzungszeit
Mit gemischten Gefühlen blickt die 104 Jahre alte Holzkirchnerin Wilhelmine Schönherr auf das Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. In die Erleichterung der damals blutjungen Mutter mischte sich Angst vor den Besatzern.
Mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 begann für viele Deutsche eine Phase der Ungewissheit. „Man war froh, dass der Krieg vorbei war, andererseits wussten wir nicht, was jetzt kommt“, erzählt Wilhelmine Schönherr. Die Holzkirchnerin wird im August 105 Jahre alt. Ihre Enkeltochter Barbara Meder hatte sie gebeten, anlässlich des Kriegsendes vor 80 Jahren zurückzublicken.
Wilhelmine Schönherr ist altersbedingt schwerhörig, das Gespräch strengt sie an. Aber sie weiß, dass es nicht mehr viele Zeitzeugen gibt, die von angsterfüllten Nächten im Keller, von Bombenangriffen und dem Näherrückens der Amerikaner erzählen können. Davon, was es bedeutet, als 24-Jährige mit einem wenige Monate alten Baby und der eigenen Mutter allein in der Wohnung an der Föchinger Straße zu sein, während draußen feindliche Soldaten unterwegs sind. „Wir haben keine Kaugummis bekommen“, sagt Wilhelmine Schönherr, angesprochen auf das gängige Bild vom amerikanischen GI, der auf einem Panzer sitzend Süßigkeiten an Kinder verteilt. „Wir hatten Angst vor den Soldaten.“
Überrascht hatte sie der Einmarsch der Amerikaner am 1. Mai in Holzkirchen nicht – sie hatte das Vorrücken heimlich über einen umgerüsteten Volksempfänger verfolgt. Ihre Mutter befestigte ein weißes Leintuch am Besenstil und hängte es an den Balkon. „Das hat bedeutet: Wir ergeben uns.“ An jenem Tag kamen keine Soldaten in das Haus der Frauen. Glück gehabt!
Doch einige Zeit später klopften US-Offiziere bei den Frauen an. Sie verpflichteten sie, ihre Uniformen zu waschen und zu bügeln. Ein Sachverhalt, der sich kurz darauf als Vorteil entpuppen sollte. Denn während die Offiziere den Frauen nichts zuleide taten, hegten die amerikanischen Soldaten, die später in ihr Haus kamen, zumindest dem Anschein nach andere Absichten. Wie Wilhelmine Schönherr erzählt, öffneten die Soldaten alle Schränke auf der Suche nach Wertgegenständen – und nahmen mit, was ihnen gefiel.
Im Keller fanden sie eine Flasche Sekt, die Wilhelmine Schönherrs Mutter dort versteckt hatte. Bevor sie sich die schmecken ließen, musste ihre Mutter einen Schluck probieren. „Sie wollten wohl sicherstellen, dass der nicht vergiftet ist“, mutmaßt Wilhelmine Schönherr. Dann gingen zwei der Soldaten in die Küche, wo ihre Tochter Irmgard in einer Wiege schlief. „Sie standen an der Wiege und haben hineingestarrt, ohne zu lächeln“, erzählt Wilhelmine Schönherr. Ihr Herz klopfte damals wild. „Ich wusste nicht, was sie vorhaben. Bringen sie mein Kind um? Nehmen sie es mit? Sie sind einfach nicht von der Wiege weggegangen.“ Bis einer der Soldaten im Flur die frisch gebügelten amerikanischen Offiziersuniformen entdeckte. „Da haben sie es mit der Angst bekommen und sind gegangen“, erzählt Wilhelmine Schönherr. Sie vermutet, dass den Soldaten Plünderungen von ihrer militärischen Führung untersagt worden waren.
Während des Krieges hat Wilhelmine Schönherr mehrfach die Erfahrung machen müssen, dass Überleben Glückssache ist. Zum Beispiel dann, wenn es Fliegeralarm gab, sie aber nirgends Schutz suchen konnte, weil sie gerade mit dem Zug nach Miesbach in die Arbeit fuhr. Auch ihre vier Jahre jüngere Schwester, die in München als Tramfahrerin arbeitete, überlebte einen Bombenangriff nahe dem Stachus ungeschützt auf offener Straße. „Man musste halt einfach Glück haben“, sagt Wilhelmine Schönherr. Sie erinnert sich noch, wie sie nach diesem Luftangriff in München nach ihrer Schwester suchte. „Es brandelte furchtbar und überall lagen Löschschläuche.“ Von ihrer Schwester fehlte jede Spur. Tage später ging in Holzkirchen die Haustür auf – und die Schwester kam herein. Sie hatte sich zu Fuß nach Holzkirchen durchgeschlagen. „Wir waren überglücklich.“