„Bargeldblasen“ entstehen - Schweden ist fast bargeldlos: Was Deutschland daraus lernen kann – und was nicht

Während in Deutschland im Jahr 2023 noch jede zweite Zahlung mit Bargeld erfolgte, zeigt Schweden, wie schnell sich das ändern kann. In dem skandinavischen Land hat sich der Bargeldumlauf seit 2007 halbiert. Geschäfte, öffentliche Verkehrsmittel und sogar Dienstleistungen nehmen oft nur noch Kartenzahlungen oder mobile Bezahlmethoden an.

Auch in Deutschland hat die Nutzung bargeldloser Zahlungen deutlich zugenommen. Laut einer aktuellen Studie der Deutschen Bundesbank wurden im vergangenen Jahr 27 Prozent der Transaktionen mit Debitkarten durchgeführt – ein Anstieg um fünf Prozentpunkte im Vergleich zur vorangegangenen Erhebung 2021. Auch mobiles Bezahlen hat sich auf sechs Prozent verdreifacht. Doch was bedeutet das für die Menschen, die mit der Digitalisierung nicht mithalten können?

„The Conversation“ wirft für Antworten auf diese Fragen einen Blick nach Schweden. Auf dem US-Nachrichtenportal berichten zwei Forscher der schwedischen Lund Universität, wie die Menschen in ihrem Land die zunehmende Bargeldlosigkeit empfinden. Moa Petersén und Lena Halldenius haben mit Bewohnern aus Malmö darüber gesprochen, wie ihr Alltag und ihre gesellschaftlichen Erfahrungen durch die Digitalisierung des Zahlungsmarkts beeinflusst werden. Ihre Studie trägt den Titel: „Der Wert von Bargeld: Armut und Ausgrenzung in Schwedens digitaler Wirtschaft“.

Swish: Motor der Digitalisierung in Schweden

Ein entscheidender Treiber für die bargeldlose Gesellschaft in Schweden ist die 2012 eingeführte Zahlungs-App Swish. Diese von Banken entwickelte App hat den Zahlungsverkehr revolutioniert und ist heute für über 80 Prozent der Bevölkerung unverzichtbar. Zahlungen lassen sich in Sekundenschnelle per Smartphone abwickeln, und Swish wird von Privatpersonen, Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen gleichermaßen genutzt.

In Schweden spielen Banken eine zentrale Rolle in der digitalen Infrastruktur. Neben Swish haben sie ein elektronisches ID-System entwickelt, das für den Zugang zu öffentlichen Diensten wie Steuerbehörden und Sozialleistungen erforderlich ist. Wer kein Bankkunde ist, kann diese essenziellen Dienste nicht nutzen.

Digitale Armut erschwert den Alltag

Für viele Schweden ist das digitale Bezahlen bequem und effizient. Doch Menschen, die auf Bargeld angewiesen sind – darunter Ältere, Obdachlose und Geringverdiener – stoßen auf erhebliche Hindernisse. Menschen, die keinen Zugang zu einem Bankkonto oder digitalen Technologien haben, werden dort zunehmend ausgeschlossen. Ohne Bankkonto oder Smartphone können sie nur in sogenannten „Bargeldblasen“ wirtschaften. Innerhalb dieser Blasen lässt sich Bargeld wie eine isolierte Währung nutzen, mit der nur grundlegende Dinge bezahlt werden können, etwa Lebensmittel oder Dienstleistungen. Parkgebühren, Online-Rechnungen oder digitale Behördendienste bleiben unerreichbar.

Freiwillige Helfer berichten, dass sie oft Bankgeschäfte für andere Menschen übernehmen, um diesen zumindest den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen zu ermöglichen.

Verzweiflung und Isolation

Ein Beispiel verdeutlicht die Probleme: Eine ukrainische Geflüchtete konnte ihre Klinikrechnung nicht bezahlen, da sie kein Bankkonto eröffnen durfte. Obdachlose, die in Autos übernachten, müssen auf teure inoffizielle „Parkhelfer“ zurückgreifen, wenn sie keine bargeldlosen Automaten nutzen können.

Eine ältere Frau schilderte im Rahmen der schwedischen Studie, wie sie mit ihrem Enkel an der Kasse abgewiesen wurde, weil Bargeld nicht akzeptiert wurde: „Ich fühlte mich wie eine Diebin.“ Diese Erlebnisse prägen das Gefühl, nicht mehr Teil der Gesellschaft zu sein. Betroffene fühlen sich ausgeschlossen und gedemütigt.

Eine weitere Befragte sagte den Forschern der Lund Universität: „Es geht nicht nur um das Bargeld. Es fühlt sich an, als wären die Menschen verschwunden. Wir leben wie Roboter, klicken hier, klicken dort. Die Digitalisierung hat uns einsam gemacht.“

Kurzfristige Bargeldnutzung steigt, langfristiger Rückgang hält an

Während der Pandemie verstärkte sich das Vorurteil, Bargeld sei unhygienisch. Diese Stigmatisierung hat dazu beigetragen, Bargeld in Schweden nicht nur als veraltet, sondern auch als schmutzig und unpraktisch zu betrachten.

Interessanterweise zeigt eine aktuelle Umfrage der Schwedischen Riksbank, dass fast die Hälfte der Befragten im letzten Monat Bargeld verwendet hat – ein Anstieg um 15 Prozentpunkte im Vergleich zu 2022. Dieser kurzfristige Anstieg steht jedoch im Widerspruch zu langfristigen Trends: Abhebungen an Bankomaten gingen 2023 zurück, und die Menge des im Umlauf befindlichen Bargelds sank um zehn Prozent.

Die Riksbank vermutet, dass viele Menschen Bargeldreserven nutzen, die sie nach der russischen Invasion in der Ukraine 2022 angelegt hatten. Solche Entwicklungen zeigen, dass Bargeld in Schweden trotz des digitalen Fortschritts in Krisenzeiten weiterhin eine Rolle spielt.

Was Sie sich merken sollten:

  • Schweden ist Vorreiter der bargeldlosen Gesellschaft, jedoch führen digitale Zahlungsmethoden wie Swish zu sozialer Ausgrenzung benachteiligter Gruppzen.
  • Menschen ohne Bankkonto oder Smartphone sind in „Bargeldblasen“ gefangen und können oft nicht an der modernen Wirtschaft teilnehmen.
  • Deutschlands Digitalisierung schreitet voran, doch Schweden zeigt: Ohne soziale Verantwortung können technologische Fortschritte Ungerechtigkeiten verstärken.

Von Moritz Schmidt