Böse Klischees - Verwöhnt und egoistisch? Was Eltern über Einzelkinder wissen müssen

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Getty Images Schadet es Kindern wenn sie ohne Geschwister aufwachsen?

Sind Einzelkinder wirklich so verwöhnt, vorlaut und ich-bezogen wie es oft heißt? Anna Hofer, selbst Einzelkind und Einzelkind-Mutter, ist der Frage nachgegangen und hat die aktuelle Studienlage einer gründlichen Prüfung unterzogen.

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Sie gelten als egoistisch, intolerant und verwöhnt, sollen einsam, altklug, vorlaut, perfektionistisch, sozial inkompetent und ich-bezogen sein: Einzelkindern haften zahllose Klischees und Vorurteile an.

Dass das aber so nicht stimmen kann, war Anna Hofer schon klar, als sie selbst noch ein Kind war. Ein Einzelkind. „Ich weiß ja nicht, was sich Menschen da manchmal für sabbernde, schreckliche Kreaturen vorstellen, wenn sie an Einzelkinder denken“, erzählt sie im Gespräch mit FOCUS online. „Die Assoziationen über Einzelkinder sind extrem negativ. Manche Leute schienen tatsächlich überrascht zu sein, wie sozialkompetent und wie wenig auffällig ich war – wie wenig man ahnen konnte, dass ich ein Einzelkind bin“, erinnert sie sich. Immer wieder habe sie gehört, dass sie sich gar nicht wie ein typisches Einzelkind verhalten würde.

Was denn ein typisches Einzelkind sein soll, fragte sie sich damals schon. Heute ist Anna Hofer Mutter eines Sohnes. Die Entscheidung, genau ein Kind zu bekommen, hat sie ganz bewusst getroffen.

Jedes dritte Kind in Deutschland wächst ohne Geschwister auf

Ihre Erfahrungen als Einzelkind und Einzelkind-Mutter haben ihr gezeigt, dass die meisten Klischees einer ernsthaften Überprüfung nicht standhalten. Doch es gibt kaum aussagekräftige Literatur zum Thema Einzelkinder – während Ratgeber über Geschwisterbeziehungen reichlich vorhanden sind. Mit ihrem Buch „Mein fabelhaftes Einzelkind“ will Hofer das nun ändern und zeigen, was es für Familien bedeutet, wenn sie sich für ein Kind ohne Geschwister entscheiden.

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„Mein fabelhaftes Einzelkind: Warum Kinder auch ohne Geschwister glücklich groß werden“ von Anna Hofer, erschienen im Kösel-Verlag.

 

Obwohl statistisch gesehen jedes dritte Kind in Deutschland ohne Geschwister aufwächst, kennt Hofer die verwunderten Fragen aus dem Umfeld, wenn sie sagt, dass sie keine weiteren Kinder möchte:

„Ich habe keine lange Leidensgeschichte. Mein Mann und ich haben beschlossen, dass wir genau ein Kind bekommen wollen. Und natürlich ist das auch Glück, Zufall, Timing, wie auch immer – aber wir mussten nicht zwei Jahre lang probieren, ein Kind zu bekommen. Wir haben auch nicht mehrere Fehlgeburten durchleiden müssen. Wir wollten ein Kind, ich bin schwanger geworden und das ist das Ende der Geschichte.“

Dass sie damit tatsächlich zufrieden sind und dass sie und ihr Mann diese Entscheidung frei getroffen haben – das hätten sich Außenstehende oft nicht vorstellen können. „Als wären Familien mit nur einem Kind noch nicht richtig fertig.“

„Das ist falsch und muss richtiggestellt werden“

Einzelkinder werden auch aufgrund der vielen Vorurteile oft bemitleidet. Als würde ihnen ohne Geschwister etwas Entscheidendes im Leben fehlen. Genau diese Annahme möchte Hofer richtigstellen. Viele Menschen seien davon überzeugt, dass es für Kinder besser sei, wenn sie nicht als Einzelkinder aufwachsen. Das setze Eltern unnötig unter Druck:

„Wir wissen, wie schwer es manchen Paaren fällt, überhaupt in die Familienplanung zu starten. Und wenn sie dann noch das Gefühl haben, dass ein Kind aus den genannten Gründen nicht reicht, oder dass sie ihrem Kind schaden, weil es keine Geschwister bekommt, dann finde ich das verantwortungslos, unfair und schlichtweg falsch.“ Es sei schon schwer genug, dieses Wunschbild von Familie loslassen zu müssen, das tue sicher unglaublich weh. „Nach allem, was die Wissenschaft sagt, nach allem, was ich persönlich erlebt habe, ist das einfach falsch und muss richtiggestellt werden.“

Für ihr Buch hat Hofer sich ausführlich mit der wissenschaftlichen Datenlage zu Einzelkindern befasst und festgestellt, dass die gängigen Vorurteile kaum zutreffen. Sie fand heraus, dass Einzelkinder keinerlei Nachteile gegenüber Geschwisterkindern haben und dass Einzelkinder sozial sogar besser aufgestellt sein können, weil sie motivierter seien, Bekanntschaften mit anderen zu machen als Kinder mit Geschwistern.

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Sind Einzelkinder sozialer als Kinder mit Geschwistern?

„Einzelkinder legen ganz besonderen Wert auf Freundschaften und investieren dafür sehr viel Zeit und Energie, mehr noch als Kinder mit Geschwistern. Auch das zeigt die Studienlage.“

Die erste große deutsche Einzelkind-Studie, die Ende der 80er-Jahre durchgeführt wurde, untersuchte die sozialen Kompetenzen, die emotionale Entwicklung, schulischen Leistungen und die Eltern-Kind-Beziehung einer großen Stichprobe. Schon damals habe man festgestellt, dass Kinder ohne Geschwister zu sozialeren, optimistischeren und leistungsbewussteren Menschen werden als Geschwisterkinder.

In einer recht aktuellen Studie ist die Universität Leipzig der Frage nachgegangen, welchen Einfluss Geschwister auf die Persönlichkeitsentwicklung haben. Das überraschende Ergebnis: einen viel geringeren als bislang angenommen.

„Die Forschenden waren selbst sehr überrascht, dass Geschwister gar nicht diesen starken Einfluss haben wie bislang vermutet“, sagt Hofer.

Über Anna Hofer

Anna Hofer, Jahrgang 1979, unterstützt seit zehn Jahren Familien in der psychologischen Beratung und als Stillberaterin. Ausgebildet in der Gesprächspsychotherapie nach Rogers und der Verhaltenstherapie nach Beck & Ellis begleitet sie Mütter und Väter auf den verschiedensten Etappen ihrer Elternschaft. Sie ist als Einzelkind aufgewachsen und selbst Mutter eines 2012 geborenen Einzelkindes. Sie kennt das häufige Unverständnis und die Frage nach Geschwistern, wann immer ihr Einzelkind zur Sprache kommt.

Auf ihrem Instagram-Kanal stellt Hofer spannende Informationen rund um das Thema Einzelkind zusammen und ermöglicht einen Austausch unter Gleichgesinnten.

 

Die Entscheidung, ob wir mehr als ein Kind bekommen, darf ausschließlich liebevoll sein

Erklären lassen sich die Ergebnisse vermutlich dadurch, dass Einzelkinder der heutigen Generation kaum sozialen Mangel erfahren, weil sie durch Kindergarten, Schule, Hobbys und Verabredungen genauso viel Zeit mit anderen Kindern verbringen wie Geschwisterkinder und daher in ähnlichem Maß soziale Interaktionen erleben.

„Julian Schmitz von der Uni Leipzig hat mir gesagt, dass Kinder spätestens ab der Schulzeit sogar mehr Zeit mit anderen Kindern verbringen als mit ihren Geschwistern. Und damit ist auch diese Frage, ob man Geschwister für den sozialen Kontext braucht, obsolet“, sagt Hofer.  

„Ich persönlich finde das sehr entlastend, denn dann darf die Frage, ob wir mehrere Kinder bekommen, tatsächlich eine sehr persönliche und ausschließlich liebevolle sein.“

Dieser Punkt ist Anna Hofer besonders wichtig: Eltern sollten die Chance haben, eine freie Entscheidung für oder gegen weitere Kinder zu treffen. Sie sollte nicht durch Vorurteile, soziale Normen oder Druck von außen beeinflusst werden.

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Das Einzelkind als Anti-Burn-out-Strategie

„Wenn Eltern ihrem ersten Kind ein Geschwisterchen ‚schenken‘ wollen, haben sie oft überhöhte Erwartungen an die Geschwisterbeziehung, die daraus folgen soll“, meint Hofer.

„In Geschwisterbeziehungen wird unglaublich viel Positives hineininterpretiert und da wird auch unglaublich viel von diesen zwei Menschen erwartet, die ja vollkommen individuelle Persönlichkeiten sind, die unterschiedliche Temperamente und Interessen haben. Die müssen nicht perfekt miteinander matchen. Es ist eher ein Glücksfall, wenn sie es tun.“

Zudem hätten Familien mit mehr als einem Kind auch mit der Herausforderung zu kämpfen, die es mit sich bringt, zwei oder mehr Kinder im unterschiedlichen Alter im gleichen Moment in ihren Bedürfnissen zu begleiten und all das auszubalancieren. Ganz abgesehen von finanziellen und räumlichen Ressourcen.

Mit jedem weiteren Kind werde das Familienmobile wieder ordentlich durcheinandergewirbelt. „Bis sich das wieder beruhigt und richtig gut im Flow ist, braucht man als Eltern ganz schön viel Energie. Und das darf man sich durchaus ganz rational bewusst machen“, findet Hofer und ermutigt Einzelkinder-Eltern:

„Eine gelungene Anti-Burn-out-Strategie kann die sein, sich für genau ein Kind zu entscheiden. Wir und unser Kind profitieren davon.“