Sie kommen mit gebrochenem Herzen, zerschlagenem Selbstbild und einer langen Geschichte aus emotionalem Missbrauch.
Und sie landen – ausgerechnet – bei einem Therapeuten, der sagt:
„Seien sie nicht so empfindlich. Es ist eine Frage der Kommunikation. Reden Sie mit ihrem Partner:in“
Was wie ein Scherz klingt, ist Realität. Immer häufiger berichten Betroffene in meiner Praxis von Erlebnissen, die nicht nur unsensibel waren – sondern retraumatisierend.
Über Chris Oeuvray
Chris Oeuvray hat als langjährige psychologische Beraterin tiefen Einblick und umfangreiche Fachkenntnis zu Herausforderungen und Konflikten. Ihre Schwerpunkte sind Narzissmus und Mobbing. Ihr Ratgeber "Narzissmus – ohne mich" hilft Betroffenen von narzisstischem Missbrauch. Sie ist 1967 geboren und lebt mit Partner und Sohn in Zug (Schweiz).
Das Problem mit Therapeuten, die Narzissmus nicht verstehen
Narzisstischer Missbrauch ist subtil, emotional und tiefgreifend. Wer ihn nicht selbst erlebt hat oder nicht wirklich versteht, läuft Gefahr, die Situation des Opfers zu verharmlosen – oder gar umzukehren.
Sandra, 39, sucht nach Jahren in einer toxischen Beziehung Hilfe. Ihr Partner hatte sie emotional isoliert, manipuliert, und bei jeder Trennung mit Schuldgefühlen überhäuft.
Der Therapeut hört sich alles an – und sagt dann mit einem Lächeln:
„Das klingt ganz normal. Jeder will doch ein bisschen bewundert werden. Vielleicht sind Sie einfach zu empfindlich.“
Sandra geht nach Hause – und zweifelt. An sich. An ihrer Wahrnehmung. An ihrem Schmerz.
Das ist kein Einzelfall.
Der falsche Therapeut kann mehr Schaden anrichten als heilen
In der öffentlichen Wahrnehmung ist „Therapie“ gleichbedeutend mit Hilfe, Heilung, Lösung. Doch wie bei allen Berufen gibt es auch in der Psychotherapie große Unterschiede – in Haltung, Kompetenz und Selbstreflexion. Leider tummeln sich wie überall auch bei Therapeuten Narzissten.
Besonders kritisch wird es, wenn Therapeuten narzisstische Anteile nicht nur besitzen, sondern stolz darauf sind – und sie sogar zu einem Teil ihres Konzepts machen.
Ein Therapeut sagte kürzlich in einem öffentlichen Interview:
„Ich bin Narzisst. Aber ein netter.“
Und weiter:
„Diese ganzen Missbrauchs-Vorwürfe? Ein bisschen Drama muss man halt aushalten.“
Solche Aussagen entwerten das Erleben von Betroffenen – und verstärken genau das, was sie hinter sich lassen wollen: das Gefühl, zu übertreiben. Zu dramatisieren. Schuld zu sein.
Woran Sie einen wirklich geeigneten Therapeuten erkennen
Eine gute therapeutische Beziehung ist geprägt von Respekt, Einfühlungsvermögen und Klarheit. Besonders bei so sensiblen Themen wie narzisstischem Missbrauch sollten Sie auf folgende Punkte achten:
1. Der Therapeut hört zu – ohne zu werten.
Sie fühlen sich ernst genommen. Ihre Gefühle werden nicht relativiert oder wegerklärt.
2. Er oder sie kennt das Thema Narzissmus – nicht nur aus Lehrbüchern.
Fragen Sie ruhig nach der Erfahrung mit emotionalem Missbrauch oder Persönlichkeitsstörungen. Gute Fachkräfte können konkret antworten.
3. Sie fühlen sich sicher – auch mit Schwäche.
Ein guter Therapeut braucht kein Drama. Und er macht sich nicht größer als Sie.
4. Sie werden nicht überrumpelt oder gedrängt.
Kein „Sie müssen verzeihen“ nach der zweiten Sitzung. Kein „Vielleicht war es ja gar nicht so schlimm.“
Was nicht hilft – und was gefährlich ist
Therapeuten, die…
- narzisstische Tendenzen romantisieren („Das ist doch auch nur ein verletztes Kind“)
- Opferverhalten analysieren und Täterverhalten entschuldigen
- oder schnell mit pauschalen Ratschlägen kommen („Geh einfach, dann ist alles gut“)
…können bestehende Wunden nicht heilen. Im Gegenteil: Sie vertiefen sie.
Ihr Schmerz verdient Schutz – und echte Begleitung
Wenn Sie emotionalen Missbrauch erlebt haben, brauchen Sie kein Mitleid. Sie brauchen Haltung. Eine klare, professionelle und mitfühlende Begleitung, die Ihre Geschichte weder bagatellisiert noch pathologisiert.
Geben Sie sich die Erlaubnis, kritisch zu sein.
Und wenn Sie sich nach einer Sitzung schlechter fühlen als davor – dann ist es in Ordnung, weiterzusuchen.
Heilung beginnt, wenn Sie sich nicht mehr erklären müssen. Wenn Sie erzählen – und der Therapeut einfach nur nickt, weil er versteht, ohne zu bewerten – dann sind Sie am richtigen Ort.
Haben Sie schon einmal erlebt, dass ein Therapeut Sie wirklich verstanden hat – ohne dass Sie sich erklären mussten?
Schreiben Sie es in die Kommentare. Ihre Erfahrung kann anderen Mut machen.
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