Michel Friedman: „Wir haben eine sehr dekadente Beziehung zur Demokratie“
Michel Friedman hat gerade sein neues Buch „Judenhass“ vorgelegt, in dem er sich mit dem Terror der Hamas und dessen Folgen beschäftigt. Wir sprachen mit dem Publizisten über Antisemitismus und eine Demokratie in Gefahr.
Ein Nachmittag im Hotel Bayerischer Hof in München: Michel Friedman schreibt in seinem neuen Buch „Judenhass“ (Michel Friedman: „Judenhass. 7. Oktober 2023“. Berlin Verlag, Berlin/München, 112 Seiten; 12 Euro.) über den Terror der Hamas und dessen Folgen. Neben dem Entsetzen über die Morde und den hervorbrechenden Antisemitismus lässt der 67-jährige Jurist und Publizist in diesem mitunter recht persönlichen Text auch Ratlosigkeit anklingen. Zugleich gibt er sich in der Analyse gesellschaftspolitischer Entwicklungen kämpferisch. Nach einer Stunde Interview – kräftiger Händedruck zur Begrüßung, zugewandt und exakt in den Formulierungen – muss Friedman weiter: Schüler aus Israel und München wollen mit ihm über den Holocaust-Gedenktag reden.
Madeleine Albright hat 2018 ihr Buch „Faschismus. Eine Warnung“ veröffentlicht, in dem sich die einstige US-Außenministerin auch mit Antisemitismus beschäftigt. Sie nennen Ihr Buch nun „Judenhass“, ein sehr viel drängenderer, brutalerer Titel. Spiegelt sich darin die Entwicklung der vergangenen Jahre?
Michel Friedman: Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass wieder Regierungen möglich wurden, an denen Antidemokraten oder Hetzer entweder Juniorpartner waren oder sogar die Regierung stellen.
Was macht das so gefährlich?
Michel Friedman: In dem Moment, wenn Antidemokraten exekutive Macht bekommen, ist für Liberalität, Freiheit und für den Rechtsstaat kaum noch Platz. Wir haben gesehen, wie in Ungarn, aber auch in den USA unter Trump die Institutionen der Macht verändert wurden. Aktuell erleben wir das in Polen: Die gewählte Regierung Tusk kommt nicht voran, weil an entscheidenden Stellen – bis hinauf zum Präsidenten – PiS-Leute dies verhindern.
Wenn wir mal den Blick auf die gesellschaftliche Ebene richten...
Michel Friedman: In den vergangenen Jahren ist der Hass salonfähiger geworden. Da müssen wir die Frage stellen: Kann eine Demokratie mit Hass existieren? Oder umgekehrt: Ist der Hass das Gift, das die Demokratie zerstört?
Wie beantworten Sie diese Frage?
Michel Friedman: Dort, wo in einer Gesellschaft Hass Alltag geworden ist, ist eine Demokratie nicht mehr möglich. Denn es geht hier nicht um Juden, Schwarze, Roma und Sinti oder um die LGBTQ+-Community. Es geht um jüdische Menschen, es geht um schwarze Menschen, es geht um schwule Menschen. Es geht immer um Menschen! Im Grundgesetz heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das bedeutet, dass Hass gegen Menschen ein Angriff auf das Grundgesetz ist – und damit auch ein Angriff auf alle Menschen. Wer aber die Würde des Menschen antastet, hat im gleichen Moment die Demokratie begraben.
Da sollte die Solidarisierung mit den Opfern von Hass selbstverständlich sein.
Michel Friedman: Wenn wir lernen, dass Hass immer ein Angriff auf Menschen ist – dann solidarisieren wir uns mit uns selbst. Denn der Angriff auf den einen ist immer der Angriff auf mich. Früher oder später.
Warum ist der Hass salonfähiger geworden?
Michel Friedman: Dafür gibt es drei Hauptgründe: der Einfluss der Sozialen Netzwerke, die internationale Propaganda des Rechtsextremismus, die auch von Ländern wie Russland finanziert wird, und es liegt an einer Streitkultur, die nur noch auf Meinungen basiert und nicht mehr auf Argumenten.
Können Sie den letzten Punkt erläutern?
Michel Friedman: Sie können jede Meinung haben, die Sie haben wollen. Das finde ich befremdlich, spannend oder was auch immer. Der Streit geht aber über Argumente. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind zu argumentieren, wird die Banalität einer Meinung ohne Argumente zu einem immer größeren Luftballon. Den muss man mit mehr Meinung und Emotionen, auch mit Hass, aufblasen – schließlich fehlen ja die Argumente.
Was bedeutet das?
Michel Friedman: Dadurch entsteht sofort der Gegensatz Ihr/Wir. Dadurch entstehen Ausgrenzung, Hass und Gewalt. All das hat zuletzt zugenommen.
Ich würde dazu gerne einen Blick in Ihr Buch werfen. Sie schildern im ersten Absatz die Ausgelassenheit des Musikfestivals in Israel am 7. Oktober. Diese Lebensfreude währt nur zwei Sätze. Dann kommt der Terror der Hamas auf Pick-ups. Hat die Welt zu lange an eine Idylle geglaubt, die trügerisch war?
Michel Friedman: Wir haben uns in den vergangenen Jahren zu einer entpolitisierten Konsumgesellschaft entwickelt, und wir haben eine sehr dekadente Beziehung zur Demokratie, nämlich eine konsumierende. Eine Demokratie braucht zum Überleben aber engagierte Demokratinnen und Demokraten, sonst ist sie eine leere Hülle. In Deutschland haben wir mit der AfD eine wachsende Partei des Hasses, die voller Leidenschaft begleitet wird von ihren Wählerinnen und Wählern. Und wir haben eine zumindest in Teilen gelähmte Bevölkerung, die zwar sagt, sie sei demokratisch – die aber nichts dafür tut.

Was folgt aus dieser Entwicklung?
Michel Friedman: Aus der Stärkung einerseits und der Schwächung andererseits entsteht die Verdichtung der Gefahr für die Freiheit in unserem Land.
Stichwort: gelähmte Demokraten. Nach dem Terrorangriff auf Israel war das Schweigen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens sehr laut.
Michel Friedman: Ich habe nach dem 7. Oktober eine Vermisstenanzeige aufgegeben und gefragt, wo sie denn alle sind, die sonst immer mit Solidaritätsbekundungen zur Stelle sind? Krank? Im Urlaub? Ich hätte sie jedenfalls gebraucht, als in Berlin „Tod den Juden“ gebrüllt wurde. Ich als jüdischer Mensch hätte eine Umarmung der Bevölkerung gebraucht, die mir gezeigt hätte: Wir stehen zusammen. Dies ist über Wochen nicht erfolgt – und dann sehr zögerlich. Bei der „großen“ Demonstration am Brandenburger Tor waren gerade mal 10 000 Menschen. Mehr haben es nicht für nötig erachtet, ihre Menschlichkeit auszudrücken. Das ist ein Spiegel der Gesellschaft.
Ein anderes Bild hat sich bei den jüngsten Demonstrationen gezeigt, als bundesweit Hunderttausende gegen Rechts auf die Straße gegangen sind, nachdem das Potsdamer Geheimtreffen bekannt wurde.
Michel Friedman: Ja, innerhalb von drei Tagen ging eine unglaubliche Aktivität los. Nur bei Juden scheint es schwer zu sein, Empathie zu empfinden und kundzutun.
Warum?
Michel Friedman: Fragen Sie die Gesellschaft und nicht mich.
Sie unterscheiden Judenhass von Rechts, von Links und den muslimischen...
Michel Friedman: Der rechtsextreme Antisemitismus ist der mächtigste, weil er durch die Institutionen gegangen ist und in den Parlamenten sitzt. Die AfD ist zwar demokratisch gewählt – dennoch bleibt sie eine antidemokratische Partei. Der islamistische Antisemitismus, der sich in Deutschland mit der extremen Linken verknüpft, ist aber auch gefährlicher geworden, weil seine Gewaltbereitschaft zugenommen hat. Und damit meine ich nicht den Terror, sondern die alltäglichen Situationen auf den Straßen.
Sie schreiben im Buch einen emotionalen Brief an Ihre Söhne...
Michel Friedman: Es ist der Versuch, ihnen Autonomie zu vermitteln. Es ist der Versuch, ihnen klarzu-machen, dass sie nicht Schuld daran haben, dass Menschen andere Menschen hassen. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Kinder leicht durch ihre Kindheit hätten gehen können, dass ihnen die Naivität der Kindheit gegönnt ist, dass sie sich nie Gedanken darüber hätten machen müssen, dass es eine Wertung darüber gibt, wer sie sind. In meiner Schulzeit hat mich ein Mitschüler einmal „Judensau“ genannt. Ich war wütend – da hat meine Mutter zu mir gesagt: „Michel, denk immer daran: Der Hassende ist vergifteter als der Gehasste, denn der Hassende lebt 24 Stunden mit seinem Hass.“ Der Hassende kann sich von seinem Hass nicht befreien. Der Gehasste kann das schon.
Darin steckt Hoffnung.
Michel Friedman: Wenn ich keine Hoffnung mehr hätte, könnte ich nicht mehr leben. Manchmal habe ich jedoch sehr wenig.
Lesung: Michel Friedman stellt sein Buch am 16. März 2024, 20 Uhr, in den Münchner Kammerspielen vor; Karten unter Telefon 089/ 233 966 00.