Von einem Tag auf den anderen ist Leon (8) aus Grafing verschwunden. Vergeblich verfolgt die Mutter eine Spur bis nach Bulgarien: Der Vater hat das Kind offenbar in die Türkei verschleppt. Nun ermittelt die Kripo - und die Mutter tut, was sie kann, um ihren Sohn wiederzubekommen.
Grafing - Fast hätte Elisabeth Nußer ihren achtjährigen Sohn wiederbekommen, das Verschleppungsdrama ein vorzeitiges glückliches Ende gefunden. Doch als die 35-Jährige das Hotelzimmer im ostbulgarischen Svilengrad betritt, findet sie nur noch Klamotten und Leons Spielsachen. „Ich habe ihn um eine Stunde verpasst“, sagt sie und ihre Stimme zittert. 1600 Autokilometer bis an die türkische Grenze haben sie und ihr Vater da in den Knochen, genauso viele müssen sie unverrichteter Dinge wieder heim nach Grafing reisen. „Wir haben 55 Stunden nicht geschlafen“, sagt die verzweifelte Mutter zur EZ am Telefon. Doch für ihren Leon tut sie alles.
Im Grenz-Hotel knapp verpasst – Vater türmt mit Kind in die Türkei
Seit Montag, 9. Juni, ist das Kind fort. Nach einem Wochenende beim Vater, das Paar lebt in Trennung, ist der Mann nicht mehr erreichbar. Schließlich meldet sich die Polizei: Der türkische Staatsbürger sei an der bulgarisch-türkischen Grenze den örtlichen Beamten mit gefälschten EU-Dokumenten ins Netz gegangen, erzählt die Mutter. Und mit Leon. Was nun passiert, kann sie immer noch nicht fassen: Die Grenzer beschlagnahmen zwar Auto und gefälschte Papiere, lassen den Vater und das Kind aber offenbar in der Nacht darauf in einem Hotel allein, statt sie festzusetzen. Kurz bevor die Mutter eintrifft, türmt der Vater und schafft samt Kind, offenbar mit seinem türkischen Pass, den Übertritt in die Türkei. „Er ist einfach abgehauen.“ Schließlich bekommt Elisabeth Nußer eine Nachricht ihrer Schwiegermutter, die in Istanbul lebt: Sie werde das Kind mit dem Vater großziehen. Für die 35-jährige Verkäuferin bricht eine Welt zusammen.
Kripo sucht nach Leon (8) aus Grafing - Internationales Verfahren läuft, Mutter sammelt Spenden
Das Polizeipräsidium Ingolstadt bestätigt auf Nachfrage der Redaktion, dass die Erdinger Kripo in dem Fall wegen Kindesentziehung ermittelt. Man gehe davon aus, dass sich Leon mit seinem Vater in der Türkei aufhält – wo genau, ist unklar, da die Familie offenbar auch im Osten des Landes verwurzelt ist. Zudem ist zu erfahren, dass der Vater die Mutter um einen mittleren fünfstelligen Betrag erpresst, dann gebe er den Sohn wieder heraus. Und das, obwohl ihr mittlerweile per Eilentscheidung bereits vorläufig das alleinige Sorgerecht für Leon zugesprochen worden sei.
Elisabeth Nußer hat so viel Geld nicht und will dem Vater auch nicht trauen. Sie hofft auf die Polizei, doch weil die Türkei nicht mehr zur EU gehört, läuft das Verfahren wohl nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, das Bundesamt für Justiz und Interpol seien eingeschaltet. Das macht die Sache kompliziert – und Dauer und Ausgang ungewiss. Und dann ist da noch der unklare Aufenthaltsort. Die Mutter will deshalb zusätzlich einen Privatdetektiv engagieren, sammelt dafür und für etwaige Reise- und Anwaltskosten Spenden über die Online-Plattform GoFundMe. Selbst in die Türkei zu reisen, traue sie sich momentan mit Blick auf die dortige Verwandtschaft des Vaters nicht, zudem wisse sie nicht, wo sie suchen solle. „Mir sind die Hände gebunden“, sagt sie.
Mir sind die Hände gebunden.
Nach rund zehn Jahren Ehe habe sie sich von dem Kindsvater getrennt, die Scheidung habe unmittelbar bevorgestanden. Das Jugendamt sei bereits involviert gewesen. Offenbar ließ die Situation den Vater durchdrehen und die Entführung mitsamt gefälschter Papiere planen. „Er hat sich nichts anmerken lassen“, sagt Elisabeth Nußer. Nun treibt sie die Sorge um ihren Sohn zur Verzweiflung. Zwar sei Leon wohl wenigstens körperlich nicht in Gefahr, weil der Vater dem Sohn zugewandt sei – doch will die Mutter ihr einziges Kind, das nicht einmal Türkisch spreche, unbedingt wieder zurück bei sich. Und tut alles, um Leon bald wieder in ihre Arme schließen und heim nach Grafing bringen zu können.