Zwei Bedienungen in blauer Tracht und mit Rucksack stehen vor der Absperrung zur Theresienwiese. Ratlos schauen sie auf das leergefegte Festgelände. Eigentlich würde um die Uhrzeit schon fröhliche Kapellmusik, lautes Stimmengewirr und das Singen der Oktoberfest-Gäste aus den Fahrgeschäften ertönen – und sie, die beiden Bedienungen, würden schon die ersten Gäste bewirten.
Doch stattdessen blicken sie an diesem Mittwochmittag auf die menschenverlassene Festwiese. Nur vereinzelt sind dort Bedienungen und Sicherheitsleute zu sehen, die schon in den Festzelten waren und nun mit ihren Habseligkeiten Richtung Ausgang gehen.
Es herrscht gespenstische Stille. Ab und zu gellt eine Durchsage auf Deutsch und dann Englisch vom Festgelände herüber: "Liebe Festgäste, aufgrund einer Bombendrohung öffnet das Oktoberfest heute frühestens um 17 Uhr."
Als US-amerikanischer Tourist von Bombendrohung erfährt, entfährt es ihm: "Holy Crap"
Am Mittwochmorgen hatte ein Mann im Münchner Norden wohl aufgrund eines Familienstreits sein Elternhaus die Luft gesprengt und sich dann selbst das Leben genommen. Daraufhin evakuierten die Einsatzkräfte die Umgebung rund um das Haus – und sperrten das Oktoberfest. Aus einem Brief des mutmaßlichen Täters habe sich eine Sprengstoffwarnung für weitere Orte ergeben, darunter die Theresienwiese.
Von alldem weiß ein US-amerikanischer Tourist in Lederhosen nahe der U-Bahn-Station noch nichts. "Das Oktoberfest ist gesperrt – ich weiß gar nicht, was passiert ist", sagt er und überprüft nebenbei sein Handy. Als er von der Bombendrohung erfährt, ist er schockiert. "Holy Crap", entfährt es ihm. "Ich glaube, ich werde die U-Bahn in die andere Richtung nehmen."
Die Verunsicherung ist den Gästen und Bedienungen, die sich rund ums Festgelände befinden, anzumerken. Trotzdem ist die Stimmung an diesem sonnigen Mittwoch ruhig. Das bemerkt auch ein weiterer US-Amerikaner, der mit vier weiteren jungen Männern unterwegs ist. "Dafür, dass es eine Bombendrohung gibt, sehen alle so ruhig aus."
Einige Menschen stehen in Gruppen zusammen, andere sitzen auf Treppenstufen und genießen die Sonne. Vereinzelt packen Bedienungen ihre mitgebrachten Speisen aus und essen aus Tupperdosen.
Trotz Bombendrohung wollen einige Gäste aufs Oktoberfest
Gelegentlich kommen Polizeiautos mit Blaulicht und Martinshorn vorbei. Die Sicherheitsmitarbeiter, die am Notausgang stehen, öffnen die Absperrungen, die Autos fahren hindurch.
Auch für den Sicherheitsdienst ist die Lage heute alles andere als Routine. "Wir waren alle geschockt", sagt eine Mitarbeiterin mit kurzen blonden Haaren über den Moment, als sie und ihr Team von der Bedrohungslage erfuhren. "Natürlich sind wir alle ein bisschen aufgeregt."
Gemeinsam mit ihren Kollegen sichert sie einen Seiteneingang, den immer wieder noch ahnungslose Wiesn-Gäste ansteuern. Es ist ständig derselbe Dialog: "Hallo, ich möchte aufs Oktoberfest", sagen einige. "Das ist gesperrt, mehr wissen wir auch nicht", entgegen die Sicherheitsleute.
Während die meisten wieder kehrtmachen, sind andere uneinsichtig und wollen trotz Bombendrohung auf das Festgelände. "Die blocken wir natürlich ab", sagt sie. Dann wird es kurz laut – eine Gefahrenmitteilung trifft als SMS auf die Handys der sich in der Nähe befindlichen Menschen ein und löst einen Warnton aus.
Einige Kellnerinnen treten gestresst den Heimweg an
Wenig später scheuchen ein paar Sicherheitsleute die Leute von den Zäunen weg, lotsen sie auf die andere Straßenseite. Ein junger Mann in Tracht, offensichtlich hat er schon ein paar Bier intus, passt das gar nicht. "Mann ey!", ruft er. Nach mehrfacher Aufforderung entfernt er sich widerwillig von der Absperrung und läuft mit einer leeren und einer vollen Bierflasche in der Hand über die Straße. "Das kann doch nicht sein – das ist mein erstes Mal Oktoberfest und dann das."
Auch ein paar Kellnerinnen setzt die Situation zu, sie marschieren gestresst vom Festgelände, den Blick fest aufs Handy geheftet. Andere wiederum sitzen auf den Stufen gegenüber der Absperrung und warten.
Ein paar Küchenmitarbeiter haben ihre noch sauberen Schürzen über Poller und Fahrradständer gehängt und plauschen zusammen. "Vielleicht gehen wir noch in ein Restaurant", sagt ein junger polnischer Mann, der in der Küche vom Hacker-Festzelt arbeitet. In die 15 Kilometer entfernte Unterkunft zu fahren – das lohne sich jetzt nicht mehr, zu unsicher die Lage. Trotzdem versuchen er und seine Kollegen, das Beste aus der Situation zu machen.
Wiesn-Bedienung: "Wer will denn da noch aufs Oktoberfest gehen?"
Als sich die Straßen langsam geleert haben und die Martinshörner verstummt sind, kommen zwei Kellnerinnen in roten Dirndl und dunklen Fleecejacken von der Wiesn.
Eine von ihnen, eine Frau mit zurückgebundenen blonden Haaren, stellt einen schweren Einkaufskorb mit zahlreichen bunten Sicherheitsbändern neben sich ab und setzt sich auf die Stufen einer nahegelegenen Treppe. Ihre Unterarme sind bandagiert, sie seufzt. Die andere bleibt stehen und zündet sich eine Zigarette an. Sie unterhalten sich leise.
Eine weitere Kollegin stößt dazu. "Na, dann sehen wir uns heute 17 Uhr", sagt die Rauchende zu ihr. "Da habe ich ja schon fast Schichtende. Wir sehen uns morgen", entgegnet ihre Kollegin lächelnd. "Hoffen wir, dass es dann besser wird."
"Und dass dann noch Leute kommen", antwortet die Blonde mit heiserer Stimme. "Wer will denn da noch aufs Oktoberfest gehen?"