Eliteforscher widerlegt Mär von sozialem Aufstieg – seit dem Kaiserreich hat sich nichts verändert

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Ganz nach oben schaffen es seit über 100 Jahren immer dieselben gesellschaftlichen Schichten, zeigt eine neue Studie des Eliteforschers Michael Hartmann. Er fordert eine „Arbeiterkinderquote“.

Darmstadt – Wer in Deutschland wirtschaftlich und gesellschaftlich ganz nach oben will, braucht vor allem eines: das richtige Elternhaus. Das ist das Fazit einer neuen Studie des Soziologen Michael Hartmann, die Erschreckendes darlegt: Seit mehr als 100 Jahren rekrutiert sich die Wirtschaftselite aus den gleichen sozialen Gruppen – und das trotz dreier kompletter Systemwechsel. Damit hat sich seit dem Kaiserreich an der sozialen Zusammensetzung der Entscheidungsträger der deutschen Wirtschaft wenig geändert.

Ganz nach oben schaffen es seit über 100 Jahren immer dieselben gesellschaftlichen Schichten, zeigt eine neue Studie des Eliteforschers Michael Hartmann. Er fordert eine „Arbeiterkinderquote“.
Ganz nach oben schaffen es seit über 100 Jahren immer dieselben gesellschaftlichen Schichten, zeigt eine neue Studie des Eliteforschers Michael Hartmann. Er fordert eine „Arbeiterkinderquote“. © Imago/Müller-Stauffenberg

„Herkunft schlägt Leistung“: Studie widerlegt Mär von der offenen Leistungsgesellschaft

In Deutschland gilt die Legende der Leistungsgesellschaft. Sprich: Wer hart arbeitet, bringt es auch zu etwas – unabhängig von Herkunft oder sozialem Status. Diese Mär vom sogenannten meritokratischen Prinzip wird sogar umso mehr akzeptiert, je größer die Ungleichheit in einer Gesellschaft ist, haben Untersuchungen ergeben. Dass die Wahrheit ganz anders aussieht, unterstreicht jetzt die Studie „Mehr Kontinuität als Wandel – Die deutschen Eliten vom Kaiserreich bis heute“, die Ende Juni im Berliner Journal für Soziologie erscheinen wird, und der Redaktion vorliegt.

„Erschreckendes Fazit“: Dieselben sozialen Gruppen in Spitzenpositionen seit 100 Jahren

Die Untersuchung von Michael Hartmann, Professor für Soziologie und Elitenforscher zeigt: Der Anteil sozialer Aufsteiger hat sich seit über 100 Jahren – nämlich seit 1907 – kaum verändert. Die Quote derer, die es aus der Arbeiterklasse oder der Mittelschicht in den Kreis der Wirtschaftselite – also der wenigen Tausend Menschen, die gesellschaftlich relevante Entscheidungen maßgeblich mit beeinflussen – schaffen, ist lediglich um fünf Prozent gestiegen.

Die erschreckende Tatsache, dass Herkunft Leistung schlägt, zieht sich durch alle Zeiten und gilt heute noch genauso wie im Kaiserreich.

Hartmann: „Für einen so langen Zeitraum ist das ein ernüchterndes Ergebnis“. Außerdem entfalle über die Hälfte des Zuwachses auf die ersten zwei Jahrzehnte zwischen 1907 und 1927, danach ging es nur noch im Schneckentempo weiter. In fast einem Jahrhundert gab es gerade noch einen Anstieg um weitere knapp zweieinhalb Prozentpunkte auf heute 19,1 Prozent: „Für einen derart langen Zeitraum und vier verschiedene Systeme ist das eine bemerkenswert geringe soziale Öffnung“.

Eliten dominieren die Wirtschaft, zeigt die Studie. Soziale Herkunft der Generaldirektoren/Vorstandsvorsitzenden der 100 größten deutschen Unternehmen (in Prozent).
Eliten dominieren die Wirtschaft, zeigt die Studie. Soziale Herkunft der Generaldirektoren/Vorstandsvorsitzenden der 100 größten deutschen Unternehmen (in Prozent). © Michael Hartmann: „Mehr Kontinuität als Wandel - Die deutschen Eliten vom Kaiserreich bis heute“

Die Wirtschaftselite rekrutiert damit weiter über alle politischen Systeme hinweg vor allem aus den oberen drei bis vier Prozent der Bevölkerung: „Die erschreckende Tatsache, dass Herkunft Leistung schlägt, zieht sich durch alle Zeiten und gilt heute noch genauso wie im Kaiserreich“, berichtet der Forscher im Gespräch mit IPPEN.MEDIA.

Hinter dem elitären Bemühen um der Mär vom gerechten Lohn für große Leistung verbirgt sich eben nicht die Normalität des sozialen Aufstiegs, sondern im Gegenteil: sein dauerhaftes Ausbleiben.

Neue Studie zeigt: Macht wird vererbt, nicht verdient

Trotz wachsender Mittelschicht in der Bevölkerung finden sich deren Vertreter kaum in den Führungsetagen der Wirtschaft. Der Zugang zu Macht bleibt ein exklusives Privileg – und wird nach wie vor vererbt, statt verdient. Oder, wie Hartmann es auf den Punkt bringt: „Die Aufnahme in erlesene Kreise funktioniert nach dem Prinzip der Ähnlichkeit“. Nur mit einem vertrauten „Stallgeruch“ öffnen sich Tür und Tor zu Entscheidungsträgerpositionen.

Eliten in Deutschland: „Dauerhaftes Ausbleiben von Möglichkeiten sozialen Aufstiegs“

Doch das bleibe weitgehend unbemerkt, denn: „So verhältnismäßig gering die Chancen für Kinder aus der Mittelschicht oder der Arbeiterklasse sind, in Elitepositionen zu gelangen, so groß ist das Bemühen der etablierten Eliten, einen anderen Eindruck zu vermitteln“, sagt Hartmann. Anders als früher werde eine privilegierte Herkunft von den Elitenmitgliedern heute verschwiegen, um die Legende, es durch eigene Leistung ganz nach oben geschafft zu haben, aufrechtzuerhalten. „Doch hinter dem elitären Bemühen um der Mär vom gerechten Lohn für große Leistung verbirgt sich eben nicht die Normalität des sozialen Aufstiegs, sondern im Gegenteil: sein dauerhaftes Ausbleiben“, resümiert Hartmann.

Untrügliches Zeichen für diese etablierte Kluft ist auch das zunehmend ungleich verteilte Vermögen in Deutschland. Nach Studien besitzen 3300 Superreiche fast ein Viertel des gesamten Finanzvermögens im Land, während ein Fünftel der Bevölkerung von Armut bedroht ist.

Wir brauchen eine gesetzlich verankerte Arbeiterkinderquote, vergleichbar mit der Frauenquote.

Forscher fordert politische Maßnahmen: „Wir brauchen die Arbeiterkinderquote“

Um in diesem System etwas zu ändern, brauche es klare Vorgaben aus der Politik, fiindet Hartmann: „Wir brauchen eine gesetzlich verankerte Arbeiterkinderquote, vergleichbar mit der Frauenquote“. Nur, wenn sich die Zusammensetzung der Eliten über klare Maßgaben ändert, könne sich etwas ändern, so Hartmann. Auf diese Forderungen reagierten die derzeitigen Entscheidungsträger zwar genauso konsterniert wie auf die Diskussionen über den Ruf nach Frauenquoten in den 90er Jahren. Aber solange sich die „Zusammensetzung des Stallgeruchs der Eliten“ nicht verschiebe, werde sich auch wenig an der undemokratischen Undurchlässigkeit etwas ändern.

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