Über die Hälfte der Bürgergeld-Empfänger sucht keine Arbeit. Experten fordern deshalb einen anderen Fokus. Wie kann die Reform gelingen?
Berlin – Eine Statistik sorgt derzeit für Aufsehen: Mehr als die Hälfte der Bürgergeld-Empfänger sucht nicht selbst nach einem Job. Das geht aus einer Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hervor. Über 1000 Arbeitslose mit einem Grundsicherungsbezug von über einem Jahr wurden dazu befragt, ob sie in den letzten vier Wochen Arbeit gesucht haben. Die Befragten nennen dabei vor allem einen Grund: die Gesundheit. Fast drei Viertel begründen damit ihre ausbleibenden Bemühungen, selbst Arbeit zu finden.
„Bei diesen Personen stand häufig die gesundheitliche Stabilisierung im Vordergrund“, stellen die Bertelsmann-Experten fest. Das „Ziel der Arbeitsmarktintegration“ tritt zunächst in den Hintergrund, ebenso wie die „aktiven Bewertungsbemühungen“. Nach der Stabilisierung würden die Chancen wieder steigen, die Grundsicherung zu verlassen. „Vielen gelingt der Einstieg in Arbeit dadurch, dass Hürden abgebaut werden“, erläuterte Tobias Ortmann, Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann-Stiftung.
Experte fordert Bürgergeld-Aus für Empfänger, wenn Krankheiten Jobaussichten drastisch reduzieren
In der Diskussion um die Bürgergeld-Reform fordert der Experte für einige Betroffene jedoch drastischere Schritte. Die Betroffene sollten das Grundsicherungssystem verlassen. „Wenn chronische oder psychische Krankheiten keine realistische Chance auf eine Integration in den Arbeitsmarkt bieten, dann sollte ein Wechsel aus der Grundsicherung in ein besser passendes Unterstützungssystem wie die Sozialhilfe oder die Erwerbsminderungsrente geprüft werden“, erklärte Ortmann.
Experten sehen hier schon länger Handlungsbedarf. Denn auch, wenn Bedürftige formell als erwerbsfähig gelten und deshalb Anspruch auf Bürgergeld haben, haben sie nur schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das liegt an der Definition der Erwerbsfähigkeit. Bereits ab drei Stunden am Tag ist diese gegeben, selbst wenn ärztliche Gutachten noch weitere Einschränkungen nennen. Das kann etwa der Ausschluss von körperlicher Arbeit sein.
Jobcenter-Chef fordert Bürgergeld-Anpassung – Erwerbsfähigkeit klarer definieren
„Es muss noch passende Tätigkeiten am Arbeitsmarkt geben“, betonte der Jobcenter-Chef. Selbst wenn es die passenden Stellen gibt, sind das häufig Minijobs oder andere atypische Beschäftigungen. Das Gehalt reicht dann häufig nicht aus, um den Grundsicherungsbezug zu verlassen oder nicht noch andere Sozialleistungen beziehen zu müssen.
Mania wünscht sich daher bei der Frage der Erwerbsfähigkeit, „dass es noch konkreter geht“. Unabhängig davon sieht der Jobcenter-Chef den Prozess zur Klärung der Erwerbsfähigkeit als problematisch an – insbesondere den von den Bertelsmann-Experten geforderten Wechsel der Sozialleistungen. Es könne „durchaus zwölf Monate und auch länger“ dauern, bis geklärt ist, welche Sozialleistung die Bedürftigen erhalten. Oftmals gibt es mehrere Gutachten. „Bisher lässt der rechtliche Rahmen viel offen“, so Mania. Er fordert eine zentrale Entscheidungsstelle: „Wenn die Feststellung der Erwerbsunfähigkeit oder der Erwerbsfähigkeit ansteht, dann muss es einen Ansprechpartner oder eine Stelle geben, der die Entscheidung fällt.“
Jobcenter sollen Gesundheit stärker behandeln – Arbeitsministerium arbeitet an Reform
Der Erwerbsfähigkeitsbegriff soll laut Einigung des Koalitionsausschusses von Anfang Oktober 2025 tatsächlich reformiert werden und „realitätsnäher“ werden. Menschen, die „auf Dauer nicht in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können“, sollen damit die „für sie richtige Hilfe erhalten“. Das zuständige Bundesarbeitsministerium prüft diesen Auftrag, wie eine Sprecherin auf Ippen.Media-Anfrage erklärte. „Dabei wird auch das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit in den Blick genommen.“
Die Bundesregierung plant zudem, durch die neue Grundsicherung vor allem die Empfänger so zu unterstützen, dass sie arbeitsfähig werden. Die Gesundheit soll daher ein Bestandteil der Beratung in den Jobcentern sein. Dort sollen die Mitarbeiter auf Präventions- und Gesundheitsangebote anderer Institutionen hinweisen.
Trotz Vermittlungshemmnissen: Merz-Regierung setzt auf Härte gegen Bürgergeld-Empfänger
Primär will die Regierung unter Kanzler Friedrich Merz (CDU) jedoch auf mehr Härte setzen. Schnellere Sanktionen mit höheren Leistungskürzungen bis hin zur vollständigen Einstellung sollen Empfänger dazu bringen, eine Arbeit aufzunehmen. Wirkliche „Totalverweigerer“, die mehrfach Stellenangebote ausschlagen, sind jedoch selten. Sie machen nur etwas mehr als ein Prozent der Erwerbsfähigen aus. Die ausbleibende Arbeitsaufnahme hat laut der Bertelsmann-Umfrage neben gesundheitlichen Hürden weitere Gründe: etwa die Betreuung von Kindern, die Pflege von Angehörigen, keine passenden Stellen. Dazu bietet der Arbeitsmarkt aktuell nur wenig Chancen.