Seit über 500 Jahren: Die älteste Sozialsiedlung der Welt steht in Bayern
Wohnen für fast umsonst: In der ältesten Sozialsiedlung der Welt leben für eine symbolische Jahresmiete von unter einem Euro rund 150 Menschen – mit einer Bedingung.
Augsburg – Die Wände sind in dunklem Orange angemalt; die tiefgrünen, aufgeklappten Fensterläden öffnen einen Blick in das Innenleben der Zimmer. Im Herbst ranken die leuchtenden Ahorne die Hauswände empor. Ein Brunnen steht zwischen den alten Gebäuden. Die Siedlung inmitten der Innenstadt in Augsburg scheint auf den ersten Blick wie ein normales Wohnviertel – obgleich auch besonders malerisch.
Doch die Fuggerei mit ihren 67 Häusern und 142 Wohnungen sowie einer eigenen Kirche ist von einer eigenen Stadtmauer mit drei Toren umgeben, eine „Stadt in der Stadt“. Und noch eine Besonderheit: Rund 150 bedürftige Menschen leben dort und zahlen nur eine symbolische Miete von unter einem Euro. Eine Bedingung gibt es jedoch.
2021 feierte die Fuggerei das 500-Jahr-Jubiläum – und ist damit die älteste Sozialsiedlung der Welt. Die Fugger, die die schwäbische Stadt Augsburg bis heute mit dem Beinamen „Fuggerstadt“ prägen, gehörten einst zu den reichsten Kaufmannsfamilien Europas und hatten ein weltweites Handelsimperium aufgebaut. Im Jahr 1521 stiftete Jakob Fugger die Sozialsiedlung.
88 Cent im Jahr und drei Gebete pro Tag: Bedingungen, um in der Fuggerei zu wohnen
In der Reihenhaussiedlung mit den orangen Wänden leben bedürftige Menschen und zahlen dafür eine Jahresmiete von 0,88 Euro (früher ein Rheinischer Gulden) – und das nun schon seit über fünfhundert Jahren. Doch der symbolische, geringe Mietpreis ist an eine Bedingung geknüpft: Drei Gebete jeden Tag sind Bestandteil des Mietvertrags. Die katholischen Bewohnerinnen und Bewohner müssen täglich einmal ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave-Maria für das Seelenheil der Stifterfamilie Fugger sprechen. Bis heute finanziert sich die Sozialsiedlung auch aus dem Stiftungsvermögen von Jakob Fugger.

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Die Geschichte der Fuggerei: Jakob Fugger errichtete die Sozialsiedlung, um seinen Ruf zu sichern
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts befand sich das Unternehmen der Fugger-Familie auf der Spitze seines Erfolges. An Jakob Fugger – dem wohl bekanntesten Vertreter des Handelsgeschlechts – wurde aber zunehmend auch Kritik laut. Der Vorwurf: unfaire Geschäftsmethoden. Um seinen Ruf zu wahren, fiel die Entscheidung, in Augsburg eine Sozialsiedlung zu bauen: die Fuggerei. 1514 begann Jakob Fugger, Grundstücke zu erwerben, ab 1516 wurde gebaut und am 23. August 1521 stiftete der Unternehmer die Siedlung. 1523, sieben Jahre nach Baubeginn, standen bereits 52 Häuser mit über 100 Dreizimmerwohnungen. Die Siedlung wurde stetig erweitert: Erst um die Ochsengasse, dann wurde die Herrengasse zur Jakoberstraße hin verlängert und schließlich die St. Markus-Kirche gebaut.
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Oft sah sich die Fuggerei großer Gefahr ausgesetzt, unklar war das Weiterbestehen der Sozialsiedlung. So verlor Augsburg durch die Folgen des Dreißigjährigen Kriegs wie Pest und Hungersnöte über die Hälfte seiner Einwohnerinnen und Einwohner und 1642 waren in der Sozialsiedlung zwei Häuser komplett zerstört, 28 waren nur zum Teil bewohnbar. Und auch zur Zeit des Nationalsozialismus drohte der Verlust der eigenständigen Verwaltung. Doch die Fuggerei blieb bestehen – bis heute.
Über dem Haupteingang prangt noch 500 Jahre später lateinisch in Stein gemeißelt eine Erinnerung an die Gründer der Fuggerei:
1519. Ulrich, Georg und Jakob Fugger aus Augsburg, leibliche Brüder, fest davon überzeugt, dass sie zum besten der Stadt geboren sind und dass sie ihr gewaltiges Vermögen vor allem dem allerhöchsten und allgütigen Gott verdanken, haben aus Frömmigkeit und zum Vorbild besonderer Freigiebigkeit 106 Wohnungen mit Baulichkeiten und Einrichtung denjenigen ihrer Mitbürger, die rechtschaffen, aber von Armut heimgesucht sind, geschenkt, übergeben und gewidmet.
Die Fugger – eine schwäbische Kaufmannsfamilie
Die Geschichte der Fugger in Augsburg nimmt ihren Anfang im Jahr 1367. Hans Fugger siedelte aus Graben in die Stadt im heutigen Schwaben. Zunächst mit dem Besitz einer kleinen Weberei und Baumwollhandel stiegen die Fugger in drei Generationen zur führenden Kaufmannsfamilie der Reichsstadt Augsburg auf.
Jakob Fugger der Reiche (auch Jakob Fugger „von der Lilie“ genannt) schaffte es durch seine Beziehungen zum Fürstengeschlecht der Habsburger, als erfolgreichster Bankier seiner Zeit in die Geschichte einzugehen, indem er Geschäfte mit Edelmetall, Waren und Finanzen miteinander verknüpfte. Zeitweise erstreckten sich die Handelsbeziehungen der Fugger von Italien bis in die skandinavischen Länder und von Ungarn bis nach Spanien. Jakob Fugger baute zudem den ersten privaten Nachrichtendienst der Welt auf, und die Handelsfamilie verbündete sich mit dem Adel, lieh Fürsten, Königen und Kaisern Geld. Maximilian I. war so beispielsweise stark bei den Fuggern verschuldet.
1525 verstarb Jakob Fugger. Bis zu seinem Tod hatte er ein Vermögen von über zwei Millionen Gulden angesammelt – für damalige Verhältnisse eine unvorstellbare Summe. Jakob Fugger zählt nicht ohne Grund zu einem der reichsten Menschen der Geschichte.
Stück für Stück begann in den darauffolgenden Jahren der Niedergang des Imperiums der Fugger: Die Stellung und der Ruf der Handelsfamilie begann zu bröckeln – viele Menschen schauten mit Argwohn auf das riesige Vermögen der Fugger. Auch hatten sich die Fugger finanziell zu stark an den europäischen Adel gebunden – und sich somit von ebenjenen Schicksal abhängig gemacht. Die Zahlungsunfähigkeit des spanischen Königshauses im Jahr 1557 leitete den langsamen Zerfall der Fugger ein. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) und damit einhergehenden wirtschaftlichen Folgen für die Handelsfamilie zogen sich die Fugger schrittweise aus dem Geschäftsleben zurück.
Quellen: Internetseite der Fuggerschen Stiftung, fuggerarchiv.de, Planet Wissen
Ursula von der Leyen: Fuggerei als Vorbild für Wiederaufbau in Ukraine
Im Rahmen der 500-jährigen Jubiläumsfeier hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Fuggerei im Mai 2022 besucht. Dabei sprach sich die CDU-Politikerin für neue Fuggereien in der Ukraine aus. In der ältesten Sozialsiedlung der Welt sieht von der Leyen eine „großartige Erfolgsgeschichte“, die in die Zukunft getragen werden müssen und Vorbildcharakter für Europa hat.
Die EU-Kommissionspräsidentin würdigte die Visionskraft, die Verantwortungsbereitschaft und den Mut der Augsburger Bürgerschaft und der Familie Fugger. „Die Fuggerei, die heute 500 Jahre alt ist, gäbe es nicht ohne die Weitsicht, den Willen und die Schaffensfreude der Fugger. Diese Bauten sind in Stein gegossener unternehmerischer Erfolg, aber mehr noch Ausweis unternehmerischer Verantwortung. Sie stehen für sozialen Ausgleich“, sagte von der Leyen in ihrer Rede im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses 2022.
Museum im Bunker erinnert an die Zerstörung der Fuggerei im Zweiten Weltkrieg
Vier Museen gewähren Besucherinnen und Besuchern einen Einblick in die geschichtsreiche Sozialsiedlung und führen durch die Welt der Fugger. Anlässlich des 500-jährigen Jubiläums wurden 2019 und 2022 drei Museen in der Fuggerei neu konzipiert, wie es auf der Internetseite der Fuggerschen Stiftung heißt.
- Museum der Geschichte und des Wohnens in der Mittleren Gasse 13 und 14: Von 1521 bis 1944: Stationen der Stiftungsgeschichte und eine Fuggerei-Zeitreise mit fünf Bewohnerfamilien aus fünf Jahrhunderten.
- Museum der Bewohner in der Ochsengasse 46: Einblicke, Fakten und Meinungen von den Bewohnerinnen und Bewohnern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Verantwortlichen der Fuggerei.
- Museum des Alltags in der Ochsengasse 47: Wandel im Zeitschnitt – Wohnen und Freizeit, Sorgen, Mühen und Haushalten in der Nachkriegs-Fuggerei und die Situation heute.
- Museum im Bunker: Krieg und die Folgen – Ausstellung und Dokumentation zur Zerstörung der Fuggerei durch einen Luftangriff 1944 und die Herausforderung des Wiederaufbaus.
Weitere Informationen zu Öffnungszeiten der Fuggerei, Eintrittspreise, Führungen sowie Barrierefreiheit gibt es auf der Internetseite der Fuggerschen Stiftung.
Verwendete Quellen: Internetseite der Fuggerschen Stiftung, fuggerarchiv.de, Planet Wissen, dpa
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