Angriff aus dem Schatten des AKW – Putin provoziert womöglich Atom-Unfall

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Ständiges Sicherheitsrisiko: das AKW Saporischschja. Aktuell behauptet die Ukraine, Russland würde Kamikaze-Drohnen über den Komplex steuern, um Angriffe gegen Städte am gegenüberliegenden Ufer des Dnepr zu fliegen. (Archivfoto) © IMAGO/Alexei Konovalov

Drohnen fliegen Angriffe über das Kraftwerk Saporischschja hinweg; das will die Ukraine per Video beweisen. Putin spielt demnach Russisch Roulette.

Saporischschja – „Ohne Zweifel bleibt die nukleare Sicherheit und Sicherung dieser großen Nuklearanlage sehr prekär“, schrieb Rafael Mariano Grossi. Auf der Homepage der International Atom Energy Agency (IAEA) veröffentlichte deren Generaldirektor vor rund drei Wochen die gute Nachricht, dass jetzt alle sechs Blöcke des Atomkraftwerks Saporischschja im Kaltbetrieb liefen. Grossi sieht darin „einen zusätzlichen Puffer im Falle eines Unfalls“ – den die Russen vielleicht jetzt gerade wieder provozieren: „Russland startet ,Kamikaze-Drohnen‘ über dem Kernkraftwerk“ behauptet Newsweek und stützt sich dabei auf ein Video auf X (vormals Twitter). Dessen unterschwellige Behauptung: Wladimir Putin spiele Russisch Roulette.

Die Quelle des Videos ist Anton Heraschtschenko. Der ehemalige stellvertretende Innenminister der Ukraine stützt sich auf den ukrainischen Geheimdienst als Absender des 30-Sekunden-Schnipsels, der hinter viel weißem Rauschen möglicherweise tatsächlich das Gelände des größten Kernkraftwerks Europas abbildet. Laut Heraschtschenko überflögen Drohnen die unter russischem Dauerbeschuss stehenden Städte Nikopol und Marhanez auf der dem AKW gegenüberliegenden Seite des Flusses Dnepr. Zumindest einer der Kommentatoren des Heraschtschenko-Posts äußert Zweifel – „Mike“ aus Oregon, USA. Er schreibt sinngemäß: „Die Russen überfliegen mit Drohnen eine Anlage, die sie besetzt halten und kontrollieren – wer‘s glaubt, wird selig.“

Drohnen gegen Saporischschja: Beide Kriegsparteien geben sich die Schuld

Tatsächlich mutet die Veröffentlichung an wie schiere Propaganda im Ukraine-Krieg: Im Video eingeblendet ist die Kennung UT4D.TT, die laut Heraschtschenko beweist, dass die Drohne aus russischer Produktion stamme. Das Video soll im Original von der russischen FPV-Drohne (First-Person-View) stammen und von ukrainischer Funk-Aufklärung mitgeschnitten worden sein. Drohnen sind ein heißes Thema im Zusammenhang mit der Atomanlage. Sie ist jüngst erneut Ziel von Drohnen gewesen. Vor rund vier Wochen. Gestartet von der Ukraine. Behaupten die Russen. Die Ukrainer behaupten das Gegenteil.

Das AKW Saporischschja sollte nicht als Lager oder Stützpunkt für schwere Waffen (zum Beispiel Mehrfachraketenwerfer, Artilleriesysteme und Munition sowie Panzer) oder Militärpersonal genutzt werden, das für einen Angriff von der Anlage aus eingesetzt werden könnte.“

Andrii Cherniak spricht davon, dass die Russen aus dem Umfeld des Kraftwerks heraus Drohnen abschießen würden; deren Flugbahn auf die andere Flussseite hinüber würde dann über die Reaktoren hinwegführen, behauptet der Vertreter des Verteidigungsgeheimdienstes der Ukraine – das schreibt das Magazin Defense Express. Denkbar wäre das, wenn sich die Russen damit vor ukrainischen Angriffen sicher wähnen wollten; sie würden sich damit prinzipiell sogar unter den Schutz der Genfer Konvention begeben: „In Artikel 56, Absatz 1, Seite 1 des 1. Zusatzprotokolls haben sich die Hohen Vertragsparteien – und damit auch Russland und die Ukraine – grundsätzlich darauf geeinigt, dass Kernkraftwerke nicht angegriffen werden dürfen, selbst wenn sie ein rechtmäßiges militärisches Ziel darstellen und damit angegriffen werden dürften“, erläutert der Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz der Uni Münster auf seinem Völkerrechtsblog.

Möglicherweise kämpft die Ukraine mit der Veröffentlichung des vermeintlichen Beweises selbst um die Legitimation eines Angriffes auf den Meiler. Durch den Kaltbetrieb ist die jetzt in russischen Händen liegende Steuerung des Kraftwerk seines erhöhten Gefahrenpotenzials weitestgehend beraubt. Diese Versicherung hat sich der Spiegel Anfang April geben lassen vom deutschen Radiochemiker Clemens Walther von der Universität Hannover: Weil das Kraftwerk bereits im Herbst 2022 weitgehend heruntergefahren worden sei und auch im jetzt abgeschalteten sechsten Reaktor keine höheren Temperaturen mehr herrschten sowie keine Kernspaltung mehr stattfinde, sei mit keinem GAU (Größter Anzunehmender Unfall) zu rechnen – „zum schlimmsten Szenario, einer Beschädigung im laufenden Betrieb, kann es also nicht mehr kommen“, wie der Wissenschaftler geäußert hat.

Aktionen gegen Saporischschja: Ukraine befürchtete eine „Operation unter falscher Flagge“

Seit Anfang März 2022 steht das Kraftwerk auf ukrainischem Boden unter russischer Kontrolle; Anfang Oktober 2022 hat dann die Tagesschau berichtet, Russlands Präsident Putin habe das ukrainische AKW Saporischschja zu russischem Eigentum erklärt und eine russische Verwaltung des Kraftwerks angeordnet: „Die Regierung ist angewiesen zu gewährleisten, dass Objekte zur Nutzung von Atomenergie des Kernkraftwerks Saporischschja und anderes für dessen Funktion notwendiges Eigentum in den staatlichen Besitz übernommen werden“, schrieb die Tagesschau unter Berufung auf ein russisches Dekret.

Mitte Mai diesen Jahres berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) von einem facebook-Post des ukrainischen Generalstabs über eine anstehende „Operation unter falscher Flagge“ Russlands. Für diese solle dann die Ukraine als der Schuldige hingestellt werden. Der jüngste Drohnenangriff lag da aber schon einige Tage zurück. Möglicherweise will die Ukraine den Besatzern jetzt zuvorkommen, denn ein begründeter Verdacht könnte das Völkerrecht zu Gunsten der Ukraine tatsächlich aushebeln: „Es kann Konstellationen geben, in denen der militärische Vorteil durch einen Angriff überwiegt, selbst bei Atomkraftwerken. Berücksichtigt wird hier auch, dass Kernkraftwerke sogenannte Dual-use-Objekte darstellen können, also der zivilen und militärischen Nutzung zeitgleich dienen“, schreibt der Völkerrechtsblog.

Angriff auf das Kernkraftwerk: Ukraine hätte eventuell das Völkerrecht auf seiner Seite

Sollten die Russen also militärische Infrastruktur rund um das Kraftwerk aufbauen, um von dort aus Terror gegen die umliegende Zivilbevölkerung zu verbreiten, wäre das Völkerrecht gewahrt, ohne der Ukraine die Hände zu binden. Ende 2022 wollte die Ukraine das Kraftwerk schon zurückerobern. Rund ein halbes Jahr später berichtete die britische Times dann Einzelheiten davon: von einem Kommando-Unternehmen mit Booten über den Fluss, dass dann von massiver russischer Artillerie vereitelt worden war. Bereits damals berichtete beispielsweise der Sender n-tv davon, dass Russland aus der Deckung des AKW heraus mit Artillerie gegen ukrainische Ziele vorgehe. Möglicherweise ist das nach wie vor so, und Anton Heraschtschenko hat mit seinen Anschuldigungen doch Recht.

Die Umweltschutz-Organisation Greenpeace hat noch im September vergangenen Jahres aufgrund einer Analyse des britischen Aufklärungsdienstes McKenzie Vorwürfe gegen die Internationale Atomenergie-Behörde erhoben: Danach vernachlässige sie ihre Kontrollpflichten und würde darüber hinaus die Öffentlichkeit täuschen: „Die Analyse von McKenzie zeigt unter anderem, dass die russischen Streitkräfte mit Fahrzeugen wie gepanzerten Mannschaftstransportwagen und militärischen Nutzfahrzeugen ausgerüstet sind, die für den Transport von Waffen, Munition und Sprengstoff ausgelegt sind. Das IAEA-Team vor Ort wurde von den russischen Streitkräften daran gehindert, das Innere der Fahrzeuge zu inspizieren – berichtet aber dennoch, dass es keine schweren Waffen oder Sprengstoffe gesehen hat“, wie Greenpeace auf seiner Homepage schreibt.

Schutzschild Saporischschja: Greenpeace entdeckt Lücken in den IAEA-Analysen

Der Report identifizierte demnach in einem Umkreis von rund 20 Kilometern um die Anlage herum russische Raketenwerfer, die in Siedlungen Deckung finden. Greenpeace: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die russischen Streitkräfte die Nähe des Kernkraftwerks als Schutzschild nutzen, um das ukrainische Gegenfeuer abzuwehren.“ Mit dem möglichen Einsatz der Drohnen aus dem Schatten des Kraftwerks heraus brüskiert der russische Diktator damit eventuell die Internationale Atomenergie-Behörde erneut, in dem er vorsätzlich gegen ihre Prinzipien verstößt und einen Atom-Unfall provoziert:

Im Mai vergangen Jahres hatte Rafael Grossi dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen empfohlen, beide Seiten zu verschiedenen Verhaltensmaßregeln anzuhalten. Eines seiner Prinzipien ist, das Kraftwerk Saporischschja dürfe „nicht als Lager oder Stützpunkt für schwere Waffen (zum Beispiel Mehrfachraketenwerfer, Artilleriesysteme und Munition sowie Panzer) oder Militärpersonal genutzt werden, das für einen Angriff von der Anlage aus eingesetzt werden könnte“, wie die IAEA auf ihrer Homepage veröffentlicht hat. Sollte das aktuelle Video echt sein, würde Russland das Kraftwerk weiter einer prekären Situation aussetzen.

Laut Greenpeace habe Grossi trotz der Inspektionen seiner Behörde Russland bisher zu viel Glauben geschenkt. „Wir sind als nukleare Wachhunde bekannt“, ist ein Satz Grossis, der gern zitiert wird und im Zuge der Inspektionen in Saporischschja gefallen ist. Greenpeace behauptet nach wie vor, dass seine Behörde Schärfe vermissen lasse und verweist auf Lücken in den Analysen. Das neue Video könnte diese These untermauern.

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