„Inspiration für Deutschland“: NATO-Land Norwegen führt wegen Ukraine-Krieg Wehrdienst ein
Gibt es eine Wiedereinführung der Wehrpflicht? Die Parteien haben dazu unterschiedliche Ansichten. Im NATO-Land Norwegen hat man wenig Verständnis für die Debatte.
Berlin – Als Olaf Scholz die Zeitenwende ausrief, war spätestens allen klar: da passiert etwas wirklich Großes. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat einen Paradigmenwechsel eingeläutet. Mit dem 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögen war der Themenblock Militär und Verteidigung ganz oben auf der Agenda, nach Jahrzehnten des Abrüstens.
Und plötzlich tauchte auch das Thema Wehrpflicht wieder auf. 2011 war die Einberufung zum verpflichtenden Wehrdienst ausgesetzt worden. Verteidigungsminister Boris Pistorius sprach sich im vergangenen Jahr aber für ein neues verpflichtendes Wehrmodell aus. Monatelang hatte das Ministerium an einem Konzept gefeilt. Dafür bekam er in der Ampel-Koalition allerdings keine Mehrheiten zusammen. Am Ende blieb vom Modell nicht viel mehr übrig als ein Fragebogen: Den müssen alle jungen Männer beantworten, wenn sie 18 werden. Das soll Interesse für die Streitkräfte wecken. Zum Bund müssen sie grundsätzlich aber nicht.
Ukraine-Krieg: Debatte um Wehrpflicht und Wehrdienst vor der Bundestagswahl
Experten glauben, dass das nicht ausreichen wird, um die Personalnot in der Bundeswehr auch nur ansatzweise zu mildern. Im Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2025 ist die Wehrpflicht bei allen Parteien Thema. Die Union spricht sich für eine Wehrpflicht aus, die SPD will einen „neuen, flexiblen Wehrdienst“. Die Grünen wollen ein freiwilliges Wehrdienst-Modell und den Reservedienst für eine größere Zielgruppe attraktiver machen. Und die FDP will nichts weniger, als „die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Streitkraft in Europa“ auszubauen.
Norwegen ist erstes NATO-Land, dass allgemeine Wehrpflicht für Männer und Frauen einführt
In anderen NATO-Staaten versteht man die Debatte nur bedingt. Beispiel Norwegen. Dort hatte die neue deutsche Verteidigungspolitik großen Eindruck gemacht, das Wort „Zeitenwende“ hat es als Lehnwort gar in den aktiven Wortschatz mancher Experten geschafft. Die Norweger hatten ihre ganz persönliche Zeitenwende. Jahrzehntelang hatte das Land ähnlich wie auch Schweden auf gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland gesetzt – seit dem Beginn des Angriffskriegs von Putin 2022 aber eine 180-Grad-Wende gemacht. Norwegen investiert nun massiv in Verteidigung, baut gemeinsam mit Deutschland neue U-Boote für die NATO-Nordflanke, kauft Leopard-Panzer aus Deutschland und plant den Bau neuer Fregatten für die königliche Marine.
Probleme, neue Rekruten zu finden, hat die norwegische Armee nicht. Junge Menschen sind enttäuscht, wenn sie nach der Musterung nicht zum Militärdienst dürfen, für die allermeisten ist der Wehrdienst eine Selbstverständlichkeit. Seit 2015 gilt dort die Wehrpflicht für Männer und Frauen, Norwegen ist das erste NATO-Land, das eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt hat.
Wiedereinführung Wehrpflicht? Deutschland könnte „vom norwegischen Modell inspiriert“ werden
Für Deutschland könne Norwegen in diesem Punkt vielleicht Vorbild sein, findet Fredrik Borgmann, Verteidigungsattaché in der norwegischen Botschaft in Berlin. „Ich bin überzeugt, dass Deutschland vom norwegischen Modell inspiriert sein und Erfahrungen daraus ziehen kann, um ein auf die deutsche Gesellschaft zugeschnittenes System zu entwickeln“, so Borgmann im Gespräch mit IPPEN.MEDIA.
Die Wehrpflicht diene als anerkanntes Bindeglied zwischen der Bevölkerung und den Streitkräften. „Das hilft, Vertrauen in die Streitkräfte aufzubauen und erhöht das Wissen und das Verständnis dafür, warum wir eine militärische Leistungsfähigkeit brauchen.“ Die Wehrpflicht sei „der wichtigste Rekrutierungspool“, so Borgmann.
Bereits 2023 hatte das Land 200 Millionen Kronen (etwa 17 Millionen Euro) in Rekrutierung und Ausbildung von Soldaten gesteckt – auch wegen des Ukraine-Kriegs. Ein wichtiges Ziel: Rekruten für eine längerfristige Karriere bei den Streitkräften zu halten. Denn viele, die sich nach dem Grundwehrdienst für eine Offizierslaufbahn interessieren, entscheiden sich nach ein paar Jahren für die freie Wirtschaft. „Es reicht nicht, zu sagen: Wir erhöhen das Budget. Neue Leute müssen ausgebildet werden und im ersten Schritt braucht man Leute, die wiederum ausbilden können, auf allen Ebenen, vom Spezialisten zum Stabsoffizier“, sagte Robin Allers, Associate Professor am Institut für Verteidigungsstudien (IFS) an der Hochschule der norwegischen Streitkräfte, vor einiger Zeit im Interview mit dieser Redaktion.