Putins „rote Linien sind eigentlich keine“: Experte sieht vielsagende Neu-Definition in Russland

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„Rote Linien“ pflastern Russlands Weg im Ukraine-Krieg – doch immer wieder werden sie zurückversetzt. Experte Nico Lange kommt zu einem klaren Schluss.

Ein Krieg ist per se eine gefährliche Lage – doch bei der Unterstützung Kiews im Ukraine-Krieg hat nicht zuletzt die Bundesregierung hörbar größere Bedenken. Es geht um Wladimir Putins „rote Linien“. Zweieinhalb Jahre nach Russlands Überfall auf das Nachbarland ist deren Verlauf aber unklarer denn je:

Anfangs wurde sie bei der Lieferung „schwerer Waffen“ an die Ukraine vermutet. Später bei einem Angriff auf die besetzte und völkerrechtswidrig annektierte Krim. Mittlerweile stehen ukrainische Truppen in der russischen Oblast Kursk – und von einem „Überschreiten roter Linien“ ist im Kreml bislang keine Rede. Stattdessen von einer „schwierigen operativen Situation“. Was ist da los? Und wo verläuft die „rote Linie“ wirklich? Experte Nico Lange hat im Gespräch mit IPPEN.MEDIA eine erstaunlich nüchterne Antwort parat: Es gebe sie eigentlich gar nicht.

Putin und die Atomdrohung im Ukraine-Krieg: „Diese roten Linien sind eigentlich keine“

Putin wolle nicht unter Handlungsdruck geraten, meint Lange: „Er hat ja vorher mal davon gesprochen, wenn russisches Staatsgebiet angegriffen wird, dann müssen im Grunde Nuklearwaffen eingesetzt werden“, sagt der Senior Fellow der Münchner Sicherheitskonferenz und frühere Leiter des Leitungsstabes im Bundesverteidigungsministerium. Ganz ohne Wirkung war das wohl nicht: Nato-Chef Jens Stoltenberg betonte am Wochenende, die Pläne für Kursk seien nicht mit dem Bündnis abgesprochen gewesen – nannte es aber zugleich legitim.

„Dadurch, dass er jetzt sagt, das sei eine ‚spezielle‘, eine ‚schwierige Situation in der Oblast Kursk‘, nimmt er sich diesen Handlungsdruck“, sagt Lange mit Blick auf Putin. „Er vereinfacht sich sozusagen selbst das Leben.“

Wladimir Putins Russland droht immer wieder mit Atomschlägen – aus Sicht des Experten Nico Lange nur ein Spiel mit Ängsten. © Russian Defence Ministry/afp/Bruckmann/Litzka (Montage)

„Bemerkenswert“ sei, dass Vertreter Russlands mehr oder minder deutlich eine „neue Definition“ für einen wichtigen Passus geliefert haben. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hatte Anfang 2022 erklärt, Russland werde sein Atomarsenal bei einer „existenziellen Bedrohung“ einsetzen. Diese Formulierung ist Teil der russischen Doktrin.

Zuletzt aber hätten „einige aus dem Umfeld Putins gesagt: Angriffe auf die Städte Moskau und St. Petersburg: Das geht gar nicht“, erklärt Lange. Zuvor habe der Kreml eine „existenzielle Bedrohung“ etwa auch in Angriffen auf die annektierten Gebiete gesehen: „Jetzt wird das wieder umdefiniert.“ Langes Schlussfolgerung: „Daraus, kann man, glaube ich, lernen, dass diese rote Linien eigentlich keine sind.“

„Punkt.“: Kursk zeigt Russlands Taktik mit dem Nukleararsenal – Experte rät zu simplem Leitfaden

Gibt es aber andere Auslösepunkte für eine Eskalation von russischer Seite, die der Westen und die Ukraine meiden sollten? Lange, der auch an der Uni Potsdam und der Hertie School of Governance lehrt, verneint. „Ich sehe da nichts“, sagt er. Er rät dazu, global übliche Maßstäbe anzulegen. „Das Beste wäre, zu sagen, es gilt das Völkerrecht. Punkt.“ Das Völkerrecht erlaubt angegriffenen Staaten die Selbstverteidigung mit Angriffen auf militärische Ziele – auch im Verbund mit anderen Staaten.

Der Verteidigungsexperte Gustav Gressel hatte sich bereits im Juli bei IPPEN.MEDIA ähnlich wie Lange geäußert. Gerade aus dem Zaudern der USA oder Deutschlands leite Russland „letztendlich einen Glaubwürdigkeitsanspruch seiner nuklearen Abschreckung ab“, der aber nicht zu halten sei, erklärte er. Die meisten selbstauferlegten Einschränkungen des Westens müssten ohnehin früher oder später widerrufen werden. In einem Youtube-Video betonte er zudem, Russland setze bereits all seine Kräfte ein: „Wir leben bereits in der Eskalation.“ Andere internationale Experten zeigten sich vorsichtiger.

Putin, so Lange, bringe indes gerne Themen in den Diskurs ein, die „mit dem Schlagwort ‚nuklear‘ zu tun haben – auch weil er wisse, dass „die Medien, aber auch die politisch Handelnden bei uns sehr sensibel auf die Worte ‚Atom-‘ oder ‚Nuklear-‘ reagieren“. Das gelte etwa auch für Warnungen rund um das Atomkraftwerk Kursk. Zuletzt hatte Putin auch öffentlichkeitswirksam über eine Änderung der russischen Nuklear-Doktrin nachgedacht. (fn)

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