Ich habe das Skifahren mit vier Jahren gelernt, in Oberbayern ist die Sportart Teil des Bildungskanons wie Lesen, Schreiben, Rechnen und Blockflöte. Im Winter an möglichst vielen Tagen erst auf den Gipfel zu lifteln und dann auf Brettern ins Tal zu schwingen, war eine Selbstverständlichkeit. Vor fünf Jahren habe ich die Bretter dann in den Keller gestellt. Und nie wieder rausgeholt.
Der Skisport und ich: Wir sind keine Freunde mehr. Zu teuer, zu unökologisch – und viel, viel zu gefährlich. Man kann noch so vorsichtig unterwegs sein: Es gibt schlicht zu viele Menschen, die ihre Carving-Ski nicht beherrschen und trotzdem glauben, die schwarze Piste sei ihr neues Zuhause.
„Die Lebensretter von Murnau“ im Dauerstress
Denn das Problem ist: Wenn der Berg ruft, hören heutzutage auch immer mehr Menschen hin, die Flip-Flops für Wanderschuhe halten und vor allem auf der Suche sind nach dem nächsten „instagramable“ Panoramablick. Im Jahr 2022, vermeldet der Deutsche Alpenverein in seiner letzten verfügbaren Bergunfallstatistik, haben die absoluten Unfallzahlen einen neuen Höchststand erreicht.
Viele der im bayerischen Voralpenland Verunglückten haben Glück im Unglück – und landen in der Unfallklinik Murnau, einem der größten Spezialkrankenhäuser Deutschlands. Hier werden an sonnigen Wochenenden die Opfer von Wander-, Straßen- oder Skiunfällen im Stundentakt eingeliefert. Der Kampf um Leben, Tod und funktionsfähige Extremitäten ist dort ein Routinejob.
Auf Skiern in den Abgrund gebrettert
Was dieser Ausnahme-Alltag mit dem Klinikpersonal macht, will die fünfteilige ZDF-Dokuserie „Die Lebensretter von Murnau“ (abrufbar in der ZDF-Mediathek) vermitteln.
„Ich bin der Raphael, der Notarzt vom Hubschrauber“: So begrüßt Raphael Bender, Oberarzt an der Unfallklinik Murnau, die 16-Jährige, die auf der Piste die Kontrolle über ihre Ski verloren hatte und in einen Abgrund gefahren ist. „Du konzentrierst dich einfach aufs Atmen“, sagt er ihr, bevor der Hubschrauber abhebt. Um den Rest kümmern sich die Profis.
Trotz des leicht alarmistischen Untertitels „Einsatz am Limit“ erinnert in „Die Lebensretter von Murnau“ nichts an Klinikserien wie „Emergency Room“ oder „Grey’s Anatomy“. Doku statt Scripted Reality: Die wenigen Fälle pro Folge werden nicht voyeuristisch oder effektheischend erzählt – dies ist ZDF, nicht RTL2.
Medizin kann auch verbal verabreicht werden
Die Ruhe und Souveränität, mit der die Ärztinnen und Ärzte vor Ort ihren Patienten begegnen, ist eine Wohltat. „Ich pass auf dich auf, okay?“ und „Du machst das prima“: Wenn man hilflos auf einer Trage liegt und schlicht Angst um Gesundheit und Leben hat, sind solche Sätze seitens des medizinischen Personals keine Banalität, sondern wie Salbe für die Seele. Aber leider nicht selbstverständlich.
Der Skiunfall der 16-Jährigen, der mit der Säge beinahe amputierte Zeigefinger eines Mannes, der Motorradunfall eines 18-Jährigen: Die Ärzte der Unfallklinik Murnau be- und verurteilen nicht, wie es zu diesen Unfällen gekommen ist, auch wenn es dafür sicher manchmal einen Grund geben würde. Sondern freuen sich schlicht mit den Verunfallten, wenn die erste Diagnose besser ausfällt als befürchtet.
Der Notarzt warnt: „Auch unsere Akkus sind nicht endlos“
Einsatz am Limit? Davon ist in der ZDF-Doku wenig zu spüren. „Wir fliegen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang“, erzählt Arzt Bender, da müsse man schon auf sich schauen: „Auch unsere Akkus sind nicht endlos.“ Doch wenn Not am Mann oder der Frau ist, bleiben schon mal die gerade warm gewordenen Würstchen auf dem Teller liegen und das Mittagessen fällt aus.
Trotzdem hat sich die Klinik natürlich nicht ohne Hintergedanken für das Mitwirken an so einer aufwendigen Produktion entschieden. „Eine gute und professionelle Berichterstattung über unsere Arbeit ist in Maßen natürlich in Ordnung und auch wichtig", urteilt Bender.
Forderung des Notarztes: System nicht überstrapazieren
Vor allem, weil das mediale Bild vom medizinischen Alltag komplett verzerrt ist: traumatisierte Halbgötter in Weiß hier, falsch behandelte Patienten dort. Im Vordergrund steht meist das Gejammer auf beiden Seiten: über Geldmangel, Personalmangel, Zeitmangel – und eine dadurch mangelhafte Versorgung.
Bender würde sich schon freuen, wenn die Zuschauer dank der Doku ein wenig besser verstehen, „wie komplex das Zusammenspiel der vielen Akteure ist nach einem Notfall und dem abgesetzten Notruf". Und dann vielleicht ihren Skitag, ihre Klettertour oder das Überholmanöver mit Fahrrad, Auto oder Motorrad etwas umsichtiger angehen. Seine dringende Forderung an alle Freizeitsportler: „Für so ein tolles System können wir alle dankbar sein. Und sollten es nicht überstrapazieren."