„Es hätten einige gerettet werden können“ - 135 stumme Zeugen erinnern an den fatalen Fehler der Ahrtal-Flut

Das Leben der Angehörigen sei zerstört, es folgen immer noch Suizidfälle nach der Flut, sagt Meseg. Ihm gehe es um das kollektive Gedächtnis. Unverständlich sei für ihn, dass es „noch immer kein Papier für die Verhaltensweise bei einer kommenden Flut“ gebe. „Das ist sehr traurig und zeigt, dass viele Entscheidungsträger noch immer nicht ihrer Verantwortung nachkommen.“

Bis heute verweigert der Landrat Auskunft

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 sind allein an der Ahr 135 Menschen gestorben. Der Berliner Professor für Bevölkerungsschutz, Dominic Gißler, hatte dem Katastrophenschutz im Kreis Ahrweiler bei seiner Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss am 27. November 2023 ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: Das Führungssystem war „strukturell und funktional unterkomplex. Es gab kein Managementsystem, keinen Jahresplan, kein Berichtssystem, keine Anforderung von Ressourcen“, sagte er damals.

Für den Katastrophenschutz zuständig war der damalige Landrat Jürgen Pföhler (CDU). Er war am 14. Juli 2021 um 19.20 Uhr zusammen mit dem damaligen Innenminister Roger Lewentz in der Einsatzzentrale des Kreises Ahrweiler, blieb dort aber nur wenige Minuten. Bis heute ist weitgehend unklar, wo sich Pföhler in den Stunden danach befand, in denen an der Ahr die meisten der 135 Menschen starben. Pföhler verweigert bis heute die Aussage über seinen Aufenthalt und die Antwort auf die Frage, warum er etwa für die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in den umliegenden Orten nicht erreichbar war.

Der Landrat hatte seine Aufgaben an den Leiter der Technischen Einsatzleitung (TEL) delegiert. Er selbst rief erst um 23.09 Uhr per SMS den Katastrophenalarm aus und ordnete eine Evakuierung im Umkreis von 50 Metern rechts und links der Ahr an - als diese im Oberen und Mittleren Ahrtal bereits zu einem reißenden Strom angeschwollen und weit über die Ufer getreten war.

Die Frage nach der Einmaligkeit

Ob und wie viele Menschen hätten gerettet werden können, wenn die politische Führung vor Ort ihren gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben nachgekommen wäre, darauf wollte sich Gutachter Gißler in der Anhörung vor dem Ausschuss nicht festlegen. Daran entzündet sich die Kritik des Koblenzer Rechtsanwalts Christian Hecken, der mehrere Angehörige von Opfern vertritt, darunter die Eltern von Johanna Orth.

Anwalt Hecken begründet seinen Befangenheitsantrag, der FOCUS online Earth vorliegt, unter anderem damit, dass der Gutachter Gißler von einer falschen Prämisse ausgegangen sei. Gißler sollte laut Auftrag der Staatsanwaltschaft Koblenz beurteilen, mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit die Opfer hätten vermieden werden können. Dabei sollte Gißler berücksichtigen, dass es sich bei der Flut um ein außergewöhnliches Schadensereignis handelt. Das heißt: Die Flut sei in ihrer Wucht einmalig und unvorhersehbar gewesen.

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Hecken schreibt in der Begründung seines Befangenheitsantrages hingegen, dass der Sachverständige Frank Roselieb in einem SWR-Interview vom 2. November 2023 darauf hingewiesen hatte, dass die Hochwasser in den Jahren 1804 und 1910 in ihrer Dimension vergleichbar gewesen seien. Auch das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) schlussfolgerte in einer Untersuchung vom 21. Juli 2021, wenige Tage nach der Flut: Die Dimensionen seien in der Vergangenheit vergleichbar gewesen.

Von der Aussage Frank Roseliebs könnte nun abhängen, ob Anklage gegen den ehemaligen Landrat Pföhler und den damaligen Leiter der Technischen Einsatzleitung (TEL) wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung erhoben wird. Der Leiter der TEL wies kurz vor Weihnachten jegliche Schuld von sich.  Über seinen Anwalt Christoph Arnold teilte er mit: „Der Landrat hat in der Flutnacht die Einsatzleitung nicht übernommen, sondern an den TEL-Leiter übertragen, danach tauchte Herr Pföhler komplett ab, er hat die Leute in dem Einsatzkeller der Kreisverwaltung völlig allein gelassen.“  Arnold regte daher an, das Verfahren gegen seinen Mandanten einzustellen und allein gegen den Landrat Anklage zu erheben.

„Stattdessen ging er mit seinem Hund spazieren“

Warum Pföhler nicht in die Einsatzzentrale nach Ahrweiler zurückkehrte, und warum er erst so spät den Katastrophenalarm, in Rheinland-Pfalz Warnstufe 5 genannt, ausgerufen hat, gehört zu den ungeklärten Fragen in den zweieinhalbjährigen Ermittlungen zu den Gründen der Katastrophe. Polizeiliche Ermittlungen  geben indes Auskunft zumindest über den zeitweiligen Aufenthalt des Landrates.

Ein Nachbar Pföhlers sagte demnach aus, dass er dem Landrat zusammen mit seiner Frau und dem Hund am 14. Juli 2021 zwischen 20.30 und 20.45 Uhr vor seinem Haus begegnet sei. Pföhler habe dabei gesagt, dass das Hochwasser höher steigen werde als bei der letzten Flut von 2016. Der Landrat habe sich bei dem ehemaligen Mitarbeiter der Kreisverwaltung erkundigt, ob man die Gastransportleitung an der Karl von Ehrenwall- Fußgängerbrücke abstellen solle, weil es 2016 dort schon Probleme mit dem Wasser gab. Bei den als Jahrhunderthochwasser bezeichneten Überschwemmungen im Jahr 2016 wurden bereits Menschen mit Hubschraubern von Campingplätzen gerettet.

Zwischen 21.30 und 21.45 Uhr gab es einen weiteren Kontakt zwischen Pföhler und dem Nachbarn. Laut Ermittlungen stand der Landrat zu dieser Zeit wieder vor der Haustür des Nachbarn und wollte mit ihm sprechen. Pföhler soll dabei angespannt gewesen sein. Beim Nachbarn lief zu diesem Zeitpunkt bereits die Pumpe im Keller, da bereits Wasser eingedrungen war. Der Landrat sprach laut Ermittlungen davon, dass die Menschen im Umkreis von 50 Meter des Ahrufers bald evakuiert werden. Zur Evakuierung rief Pföhler tatsächlich erst knapp anderthalb Stunden später auf, per SMS um 23.09 Uhr.

Für Rechtsanwalt Hecken belegen die Ermittlungen, dass Pföhler sich strafbar gemacht habe. Gegenüber FOCUS online Earth sagte er: „Der Landrat wusste nachweislich am 14. Juli 2021 um 20.45 Uhr, dass eine Katastrophe drohte. Er blieb untätig, obwohl er wusste, dass die Menschen im Ahrtal in höchster Gefahr waren. Er hätte aufgrund seines Wissens spätestens um 20.45 Uhr das gesamte Ahrtal evakuieren müssen. Stattdessen ging er offenbar in aller Seelenruhe mit seinem Hund spazieren."