Im Westerwald gilt weiterhin der Ausnahmezustand, mit Hochdruck sucht die Polizei nach Alexander Meisner. Der 61-Jährige wird verdächtigt, drei Menschen in Weitefeld ermordet zu haben und gilt seitdem als flüchtig. Polizeihubschrauber, Straßensperren, Kontrollen, Hausstürmungen sind die Folge – und viele Anwohner verunsichert.
Andreas Tröster (65) hat fast 23 Jahre lang als Fallanalytiker im Landeskriminalamt Baden-Württemberg gearbeitet und den Arbeitsbereich Operative Fallanalyse geleitet. Als Sachverständiger erstellt er inzwischen Gutachten mit Schwerpunkt auf Tötungs- und Gewaltdelikte. Zudem berät er als Polizeiexperte Autoren und Medien, unter anderem den Fernseh-Tatort im Südwesten. Im Gespräch mit FOCUS online erklärt er die Arbeit der Ermittler und worauf es bei der Suche nach Meisner ankommt.
FOCUS online: Herr Tröster, seit Sonntag befindet sich der Verdächtige Alexander Meisner auf der Flucht. Was geht in einem Menschen nach so einer Tat vor?
Andreas Tröster: Das lässt sich nicht allgemein beantworten. Menschen ticken grundverschieden und nur ganz selten gleicht ein Fall dem anderen. Die Konstellationen, Motive, Ausgangslagen und Gegebenheiten nach der Tat sind meist grundverschieden. Erkenntnisse aus Täterbefragungen und speziellen Erhebungen fließen aber in die polizeiliche Fahndungsarbeit ein.
Ein wichtiger Anknüpfungspunkt fehlt bei Westerwald-Mord
Häufig besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Täter und Opfer. Im aktuellen Fall ist die Verbindung unklar. Inwieweit macht das die Ermittlungen komplexer?
Tröster: Damit fehlen eminent bedeutsame Anknüpfungspunkte. Damit bleiben auch mögliche Motive erst einmal im Dunkeln. Die Vorgeschichte der Beziehung; Art, Umfang und Ausmaß des Kontakts sowie das Verhalten des Täters vor der Tat sind ebenfalls unklar. Bei Taten aus dem „sozialen Nahraum“ mit einer persönlichen Verbindung zwischen Täter und Opfer lassen sich häufig wichtige Rückschlüsse für die Ermittlungen ziehen.
Die Polizei erhält immer wieder Hinweise über angebliche Sichtungen des Gesuchten oder mögliche Aufenthaltsorte. Unter anderem den Elkenrother Weiher zwischen Tat- und Wohnort des Verdächtigen wurde mit großem Aufgebot abgesucht. Was sind typische Verstecke?
Tröster: Im Grunde kann ein Täter alle Orte nutzen, von denen er glaubt, dass die Polizei ihn dort nicht findet. Das hängt auch von den örtlichen Gegebenheiten, der Ortskenntnis des Gesuchten, der Jahreszeit und dem Wetter ab. Häufig dienen halbwegs vertraute Orte oder Personen als Unterschlupf. Eine Flucht ins Ungewisse ist eher die Ausnahme, in einer ersten chaotischen Phase aber durchaus denkbar. Dann gewinnt allerdings das rationale Handeln die Oberhand, sobald sich der Täter wieder gefasst und stabilisiert hat. Das geläufige Motto „nichts wie weg“ ist ebenfalls eine seltene Fluchtstrategie. Täter tauchen häufiger im Nahbereich unter und warten ab, bis die Straßensperren und Kontrollstellen abgebaut oder reduziert werden.
Fahndung muss lange aufrecht erhalten werden
Laut einer Nachbarin soll der Gesuchte ihr von einer Einzelkämpferausbildung erzählt haben und könnte sich in einem Wald verstecken. Was ist entscheidend für einen Fahndungserfolg?
Tröster: Neben einer treffenden Personenbeschreibung bilden möglichst umfassende Kenntnisse und Informationen zur Persönlichkeit des Täters die Grundlage für die Ermittlungen. Dazu zählen biografische Daten wie der Werdegang, Hobbys, Krankheiten, Vorstrafen, Fähigkeiten und Schwächen, mögliche Kontaktpersonen oder der Zugriff auf Fahrzeuge und Finanzen. Solche Hintergrundinformationen sind von allergrößter Bedeutung.
Für sich genommen hält sich der Nutzen einzelner Informationen in Grenzen. Fallanalytiker oder Kriminal- und Einsatzpsychologen können sie dann in einen Kontext setzen. So entsteht wie in diesem Fall auch die behördliche Einschätzung, dass der Gesuchte als gewaltbereit einzuschätzen ist. Laut Polizei gibt es keine konkreten Hinweise auf eine Gefährdung Unbeteiligter. Auch Erkenntnisse wie die Videos in den sozialen Medien fließen in die Einschätzung mit ein. Informationen zu seinen Fähigkeiten und Kompetenzen helfen dabei, seine Flucht- und Tarnungsstrategie zu bewerten.
Was ist jetzt wichtig?
Tröster: Wichtig ist außerdem, dass die Fahndung über einen längeren Zeitraum aufrecht gehalten wird und Polizei, Justiz und Behörden wie THW, Forstämter und Rettungsdienste eng zusammenarbeiten. Auch der Einbindung der Öffentlichkeit kommt eine große Bedeutung zu. Allerdings sind nicht alle Hinweise zielführend, deshalb werden sie nach einer Prioritätenliste abgearbeitet. Zudem muss die Polizei eine Balance zwischen Informationsfluss und Warnung der Bevölkerung finden. Das ist eine Gratwanderung. Hier sind auch die Medien gefordert, keine Hysterie oder Panik auszulösen. Am Ende ist von den Ermittlern Beharrlichkeit und akribische Detailarbeit gefordert, um alle Hinweise zu prüfen.
Westerwald-Verdächtiger könnte langfristig untertauchen
Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Tatverdächtiger langfristig untertauchen kann?
Tröster: Das hängt stark von den internationalen Kontakten eines Gesuchten ab. Im Inland ist das ein schwieriges Unterfahren, aber nicht unmöglich. Es benötigt Geld, Papiere, Kontakte, Anlaufpunkte und gegebenenfalls eine neue Identität.
Welche Möglichkeiten haben die Ermittler bei der Suche?
Tröster: Wie im aktuellen Fall zu sehen, richtet die Polizei nicht nur Kontrollstellen ein, sondern überprüft auch gezielt mögliche Kontakt- und Anlaufstellen des Gesuchten. Im Hintergrund können sie außerdem eine Telefonüberwachung und eine Handyortung veranlassen. Zu den Standardmaßnahmen zählt inzwischen auch, die sozialen Medien auszuwerten. Wir alle ziehen einen unsichtbaren, digitalen Teppich hinter uns her, den die Ermittler sichtbar machen müssen. Das ist eine der bedeutendsten Herausforderungen der Gegenwart. Denkbar ist darüber hinaus eine Ausweitung der Fahndung auf internationaler Ebene, auch die Zielfahndungseinheit könnte die Suche unterstützen. Hinzu kommen verdeckte Maßnahmen. Auch wenn Straßensperren und Kontrollen zurückgefahren oder abgebrochen werden, wird die Fahndung weitergehen.