Nach Sieg im Ukraine-Krieg: Putin könnte Estland attackieren

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Sterben für Narwa? Politikwissenschaftler Carlo Masala glaubt, dass Wladimir Putin nach einem erfolgreichen Ukraine-Krieg die Nato mit einem Sturmangriff seiner Armee auf die estnische Grenzstadt zu provozieren versuche (Symbolfoto). © IMAGO / Sergey Bobylev

Experten spekulieren, wann und wo Putin die Nato herausfordern könnte. Die estnische Grenzstadt Narwa ist ein geeigneter Ort und schwierig zu schützen.

Narwa – „Hier endet die Freundschaft“, schreibt Rieke Havertz. Ihre Reportage für Zeit Online spielt in der estnischen Grenzstadt Narwa. Da, wo der rote Brückenpfeiler steht, trifft europäisches Miteinander auf russisches Gegeneinander: In der Mitte des Flusses Narwa verläuft die Grenze zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation. Der in München lehrende Politikwissenschaftler Carlo Masala hat jetzt in einem Buch durchgespielt, was wäre, wenn Wladimir Putins Invasionsarmee dort zum Angriff auf die Nato ansetzte. Die Reaktionen scheinen einhellig zu sein.

„Ich bin wie Carlo überzeugt: Wladimir Putin denkt in Opportunitäten und wird uns vorher testen. Deshalb sollten wir so handeln, als könnte dies unser letzter Sommer in Frieden sein“, sagt gegenüber Focus Online beispielsweise Sönke Neitzel, Deutschlands bekanntester Militärhistoriker von der Uni Potsdam, ohne explizit das „Narwa-Szenario“ als Option zu bekräftigen. Das könnte geografisch eine Möglichkeit sein, die Nato zu provozieren.

Putin nächster Schritt? Narwa spielt in etwa die Rolle wie zu Zeiten des Kalten Krieges die „Fulda-Gap“

Narwa spielt insofern in etwa die Rolle wie zu Zeiten des Kalten Krieges die „Fulda-Gap“: Die Fuldaer Senke des Osthessischen Berglandes, von den Amerikanern als „Fulda-Gap“ bezeichnet, hätte in einem konventionellen Angriffskrieg Russland ideale geografische Möglichkeiten geboten für einen schnellen Vorstoß mit Panzern Richtung Frankfurt am Main. Wie das Hessische Institut für Landesgeschichte darlegt, hätten die Russen Westdeutschland dort an seiner schmalsten Stelle trennen können, die Logistik der US-amerikanischen Truppen empfindlich stören, einen Keil in die Verteidigung zwischen Nord- und Süddeutschland treiben und die von Bremerhaven aus südwärts verlaufenden amerikanischen Nachschubwege lahmlegen können.

„Sollte die Ukraine durch unzureichende Unterstützung oder innere Erschöpfung an den Verhandlungstisch getrieben werden und gezwungenermaßen einem Annexionsfrieden zustimmen, der die russischen Gebietsgewinne festschreibt, würde sich der Aggressor den nächsten Nachbarn zuwenden. Das muss einem bewusst sein.“

„Hier erschien das militärische Kräftemessen an der innerdeutschen Grenze besonders bedrohlich. Die Nato plante, den Angriff der Truppen des Warschauer Pakts in Osthessen mit einem atomaren Erstschlag zu beantworten“, schreibt Historiker Kai Umbach. Bis in die 1960er-Jahre hinein hätte das mit Sicherheit unter der Nato-Doktrin der „massive retaliation“ (massive atomare Vergeltung) einen Atomkrieg zur Folge gehabt, später war die Nato zur „flexible response“ (flexible Reaktion) umgeschwenkt und die Antwort auf einen Panzerkeil in der Fulda-Gap wäre möglicherweise eine andere gewesen.

Aktuell sind etwas mehr als 2000 Nato-Kräfte in Estland stationiert, den Großteil bilden britische Truppen – die wollen ihr Engagement Mitte 2025 sogar noch ausbauen, wie die britische Regierung Ende 2024 mit Estland vereinbart hat. Damit verpflichtet sich das Vereinigte Königreich im Krisenfall das 4th Light Brigade Combat Team, bekannt als die „Black Rats“ unverzüglich nach Estland zu verlegen – innerhalb von zehn Tagen soll das Kontingent der üblichen Größe einer solchen Einheit von 3000 bis 5000 Kräften an der Front stehen.

Nato in Not: Zweifelhaft, dass sie Russland strafen könnte, bevor sie vor vollendete Tatsachen gestellt wird

Das bisherige Vorauskommando im Rahmen der Nato Enhanced Forward Presence (Verstärkte Vorauspräsenz) soll dauerhaft in Estland stationiert werden, dazu noch die künftigen modernen Challenger-3-Kampf- und Boxer-Infanterie-Panzer. Im Falle eines Angriffs bilden diese Kräfte den Stolperdraht für anrückende russische Verbände. Ziel ist die Abschreckung durch Strafe, die auf dem Fuße folgt, anders als bisher in der Ukraine gehandhabt – das verspreche eine wirksame Reaktion auf ein umfangreicher feindselig auftretendes Russland, wie Anfang 2022 der US-Oberst Thomas H. Melton in seiner Dissertation am US Army War College geschrieben hat.

Nordatlantikvertrag, Artikel 5

Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffes jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechtes der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, […]“

Quelle: Bundesministerium der Verteidigung

Allerdings scheinen ihm die Nato-Verbände trotz besten Willens und ambitionierter Anstrengung außerstande zu sein, Russland so zu bestrafen, dass das Putin-Regime das spürt. Die deutsche Brigade in Litauen beispielsweise soll erst 2027 einsatzfähig sein – bis dahin ist noch zu klären, wie die dort stationierten Truppen überhaupt ihr Leben einigermaßen alltagsgerecht organisieren können; entweder durch Möglichkeiten des Familiennachzuges oder der ständigen Rotation der Kräfte.

„Angesichts der Herausforderungen der militärischen Mobilität, wie umkämpftem und beengtem Gelände, unzureichender Infrastruktur für doppelten Verwendungszweck und langen Verlegungszeiträumen nach und innerhalb Europas, ist jedoch zu bezweifeln, dass die Nato Russland mit konventionellen Streitkräften bestrafen könnte, bevor sie vor vollendete Tatsachen gestellt wird“, schreibt Melton.

Reaktion auf Putin: Stärke zeigen wird mittlerweile sogar in Teilen pazifistischer Bevölkerungsgruppen geteilt

Die darin versteckte Antwort lautet: Frühzeitig unbedingte Stärke zeigen. Sie wird mittlerweile sogar in Teilen pazifistischer Bevölkerungsgruppen geteilt, beispielsweise unter den Grünen, die sogar verstohlen für eine Wehrpflicht für Frauen eintreten. 45 Jahre nach Gründung der Grünen in Karlsruhe hat die Partei damit eine Kehrtwende zumindest angedeutet. Angefangen vom Bundesprogramm 1980 und dem in Offenbach 1981 verabschiedeten Friedensmanifest habe das grüne Konzept einer deutschen Friedenspolitik noch beinhaltet, auf weitere Rüstung bedingungslos zu verzichten, aus der Nato auszutreten und die Bundeswehr aufzulösen, wie der Hamburger Politikwissenschaftler Joachim Raschke festgehalten hat.

Auch Wolfgang Templin hat sich in einem Essay für die Bundeszentrale für politische Bildung wundgerieben an der Frage, ob „Sterben für Narwa?“ eine Option sein. Nach dem Beistandspakt nach Artikel 5 des Nato-Vertrages müssten die Nato-Länder einen Angriff auf einen Partner mit vereinter Kraft beantworten; was den Dritten Weltkrieg bedeutete.

Russlands Geschichtsverständnis: Zar Peter I. habe Regionen mit slawischer Bevölkerung „zurückbekommen“

„Sollte die Ukraine durch unzureichende Unterstützung oder innere Erschöpfung an den Verhandlungstisch getrieben werden und gezwungenermaßen einem Annexionsfrieden zustimmen, der die russischen Gebietsgewinne festschreibt, würde sich der Aggressor den nächsten Nachbarn zuwenden. Das muss einem bewusst sein“, schreibt der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Pazifist Templin, unter, wie er sich ausdrückt, innerlichen Qualen, wenn er „nun für militärische Wachsamkeit und Unterstützung zu plädieren“ müsse.

Diesen Zwang leitet Templin genau so aus der Geschichte ab wie Wladimir Putin auf der anderen Seite. Wie der russische Diktator Mitte 2022 mit Bezug auf Zar Peter I. während des Großen Nordischen Krieges geäußert hatte, habe der keine Gebiete erobert, sondern Regionen mit slawischer Bevölkerung wieder „zurückbekommen“ – das würde auch für Narwa gelten. Wie die russische Nachrichtenagentur Tass meldete, habe das zu diplomatischer Verstimmung zwischen Estland und Russland geführt.

Templin erinnert daran, dass Hitler-Deutschland auch Militär eingesetzt hat, um den Anschluss der Freien Stadt Danzig an das Deutsche Reich zu erzwingen und durch Polen einen Zugang zu Ostpreußen zu ermöglichen. „Eine Stadt wie Narwa könnte nunmehr zum Danzig unseres Jahrhunderts werden“, räsoniert Templin. Der Philosoph fürchtet sich vor der offensiv vertretenen Argumentation Putins, die Schützbedürfnisse der russischen Minderheit in Estland vertreten zu müssen: Von den rund 56.000 Einwohnern sprächen 96 Prozent Russisch, ein Drittel besäße einen russischen Pass, erinnert das Magazin Politico.

Neue Offensive möglich: „Putin geht erst dann an den Verhandlungstisch, wenn Kämpfen nicht mehr lohnt“

„Sowohl von rechts als auch links ist heutzutage häufig zu hören, dass militärische Konflikte sich nur diplomatisch lösen lassen. Haben diese Stimmen recht?“, fragte jüngst Frank Thadeusz. Den Autor des Nachrichtenmagazins Spiegel interessiert die Verhandlungsbereitschaft des russischen Potentaten. Daran zu glauben sei „Unsinn“ antwortete Neitzel und erinnerte an beinahe jeden großen Konflikt der vergangenen Jahrzehnte. Ihm zufolge wurden Verhandlungen erst dann geführt, wenn die militärische Lage ausgefochten gewesen sei.

Sollte der Ukraine-Krieg also einfrieren und die eroberten Gebiete, wie von Putin gefordert, an Russland fallen, hätte er den Beweis nach außen wie nach innen, dass seine außenpolitische Strategie aufgegangen wäre. Ein Beitritt zur Nato, wie ihn sich die Ukraine ausbedingen wollte, wäre insofern inakzeptabel für ihn, weil er den Status von vor dem Ukraine-Krieg faktisch wieder herstellte, nur geografisch weiter in die Ukraine hinein. Die Nato-Grenze zur Russischen Föderation wäre dann nach Finnland nochmals erweitert. Russland hätte faktisch trotz des Krieges nichts gewonnen.

Auch Sabine Adler warnte in der Talkshow von Caren Miosga vor einer „echten Kriegsgefahr“ für die Europäische Union sowie die Nato – nach Einschätzung des Deutschlandfunks sei Adler eine der renommiertesten journalistischen Kenner Osteuropas. Wie sie gegenüber der Zeit geäußert hat, sei Putins Herrschaft komplett um den Krieg herum organisiert, weshalb Appelle an Friedensverhandlungen oder Waffenruhe zwangsläufig fruchtlos blieben. „Putin geht erst dann an den Verhandlungstisch, wenn Kämpfen nicht mehr lohnt. Davon ist er weit entfernt.“

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