„Verdrängen, Vergessen, Erinnern“: Otfrid Pustejovsky schreibt Buch mit neuem Blick auf Geschichte
Geschichte, kombiniert mit Wissen aus der Medizin: Dieses Wagnis ist Otfrid Pustejovsky aus Waakirchen in seinem neuen Werk eingegangen. Mit der Recherche hatte er im Jahr 2005 begonnen.
Waakirchen – Über 60 Jahre lang arbeitet und forscht Otfrid Pustejovsky schon „gewohnt wissenschaftlich“, wie der 90-Jährige in seinem neuesten Buch schreibt. Doch ausgerechnet in diesem Werk, 650 Seiten dick und knapp 20 Jahre lang in Arbeit, „habe ich mit den üblichen Darstellungen der Geschichtswissenschaft gebrochen“, erklärt der Waakirchner. Nicht etwa, weil die Angaben darin nicht stimmen würden oder nicht überprüfbar wären, sondern weil das Thema des Buchs – Deutschland und Europa im 20. und 21. Jahrhundert – aus seiner Sicht danach verlangt. „Verdrängen, Vergessen, Erinnern“ steht auf dem Cover. „Ja: Erinnerung ist individuell“, schreibt Pustejovsky weiter. In seinem Werk sind deshalb auch journalistische Texte zitiert, die von Einzelschicksalen handeln. Und auch sogenannte Hobby-Historiker hätten zum Teil erstaunliche Erkenntnisse zutage gefördert, die der Wissenschaft bisher entgangen seien. Nun finden sie Berücksichtigung.
Ganz konkret widmet sich das Buch einer Verknüpfung von Medizin und Geschichte, die laut Pustejovsky bisher fast überall ausgeklammert wurde. So habe sich die Geschichtswissenschaft bisher sehr auf die Aktenlage verlassen, in denen Erinnerungen zu rekonstruierbaren Zusammenhängen würden. Die Medizin, etwa mit posttraumatischen Belastungsstörungen nach den Kriegen, sei wenig eingeflossen. Pustejovskys Buch verbindet nun Geschichte mit medizinischem Wissen und soll so helfen, besser zu verstehen, wie vergangene Ereignisse unsere Gegenwart und Zukunft beeinflussen.
„Buch für einen breiteren Leserkreis interessant“
„Meine Frau hat schon den ersten Verriss geliefert“, scherzt Pustejovsky in Bezug auf den Umfang des Buchs. „Nichtmal in der Hand halten kann man das“, zitiert der 90-Jährige schmunzelnd. Aber im Kern, versichert er im Gespräch mit unserer Zeitung, „ist das Buch mit Sicherheit für einen breiteren Leserkreis interessant“. So mache es Inhalte, die europaweit gerade aktuell seien, auch einem nicht wissenschaftlichem Publikum bekannt. Und man müsse ja nicht gleich das ganze Buch lesen. „Jeder kann sich das Kapitel heraussuchen, das ihm gefällt.“ Unter anderem befasst sich Pustejovsky in seinem Werk mit der Frage, warum im vergangenen Jahrzehnt so viele Menschen anfingen, aus ihren Erfahrungen mit dem Krieg zu erzählen. Oder warum sich die für die damalige Zeit so merkwürdige Krankheiten überhaupt entwickelt haben. Dabei heraus kommen soll „ein anderer Blick und ein erweitertes Verstehen von Geschichte“. Auf dem Buchrücken wird das mit dem Kunstbegriff „Vergangenheits-Gegenwarts-Zukunfts-Wirklichkeit“ umschrieben. „Ich wüsste keine andere Publikation, die so weit gefasst ist“, erklärt der 90-Jährige.
Der Autor
Otfrid Pustejovsky kam vor 77 Jahren als Heimatvertriebener aus der ehemaligen Tschechoslowakei mit seiner Familie an den Tegernsee. Dort arbeitete er später als Lehrer. Nach seinem Studium der Geschichte, Germanistik, katholischen Theologie und Politikwissenschaft in München und Wien promovierte Pustejovsky kurz darauf in den Fächern osteuropäische Geschichte, Slawistik sowie bayerische und mittelalterliche Geschichte. Heute lebt und forscht der 90-Jährige in der Gemeinde Waakirchen – oft zu kirchlichen Themen und solchen mit Bezug zu Osteuropa. Mit seinem aktuellen Werk beschäftige sich Pustejovsky schon seit dem Jahr 2005. Allein das Literaturverzeichnis der umfassenden Recherche umfasst weit über 100 Seiten.
Die Recherche, die dafür nötig war, ist enorm. „Ich habe die letzten 15 Jahre über die posttraumatische Belastungsstörung gelesen“, sagt Pustejovsky. Schon 2005 habe er mit der Arbeit für das Buch selbst begonnen. In den vergangenen Jahren kamen neue Ergebnisse aus der Forschung, aber auch neue Entwicklungen in der Politik hinzu. So greift Pustejovsky etwa – ohne den Namen Aiwanger zu nennen – ein Flugblatt auf, das alle Kenntnisse über die deutsche Vernichtungsdiktatur negiere. Die deutsche und internationale Reaktion darauf habe gezeigt: „Scheinbar abgeschlossene Vergangenheit wurde und wird zur traumatisierenden Gegenwart und offenen Zukunft.“ Die gesamte Weltlage habe sich seit dem Überfall der Hamas-Terrororganisation gefährlich-eskalierend entwickelt, zeige aber schon jetzt traumatische Folgen für die Bevölkerungen. „Damit erlangt diese historische Untersuchung auch unmittelbare Aktualität.“ Auch Bezug auf den Krieg in der Ukraine nimmt der Wissenschaftler in seinem Nachwort, der seine Arbeit seinem 1945 gefallenen Vater widmet. Ihm habe ein verbrecherisches Regime all dies vorenthalten, schreibt Pustejovsky. „Er starb den ,Soldatentod‘.“ nap
Das Buch
„Verdrängen, Vergessen, Erinnern – Deutschland und Europa im 20. und 21. Jahrhundert“ ist kürzlich im Lit Verlag erschienen und als gedruckte Ausgabe (79,90 Euro) oder als E-Book (74,90 Euro) erhältlich. ISBN: 978-3-643-14691-5.