Gastbeitrag von Rainer Zitelmann - Lindner will „mehr Milei wagen“ – keine schlechte Idee für Deutschland

Was meinte Lindner?

Ist Lindner auf einmal ein radikaler Libertärer geworden? Wohl kaum. Was er meinte, hat er erläutert und konnte jeder im Kontext seiner Äußerungen verstehen: Es geht um mehr Markt und weniger Staat und es geht darum, den seit Jahren immer wieder versprochenen, aber nie durchgeführten Bürokratieabbau endlich zu beginnen.

Ein Beispiel: Argentinien hat jüngst ein Portal eingeführt, in dem sich jeder Bürger und jedes Unternehmen beschweren kann über unsinnige bürokratische Regelungen. Das wäre doch mal eine gute Idee auch für Deutschland! Stattdessen gibt es hierzulande zunehmend Meldeportale, wo Bürger ihre Mitbürger wegen politisch nicht korrekter Äußerungen anschwärzen sollen.

Javier Milei: Mehr Markt und weniger Staat

Javier Milei steht vor allem für eines: mehr Markt und weniger Staat. Und er steht für eine radikale anti-linke Politik: „Man darf Linken keinen Zentimeter Spielraum geben. Wenn man ihnen einen Zentimeter Spielraum gibt, werden sie ihn nutzen, um einen zu zerstören“, sagt Milei. Das hat die FDP gerade selbst erfahren müssen. Wird sie daraus lernen?

Die FDP hat etwa zwei Drittel ihrer Wähler verloren. Die meisten davon sind abgewandert zur Union oder zur AfD. Diese Wähler haben der FDP übel genommen, dass sie in der Ampel zu viele Kompromisse mit Grünen und Linken gemacht hat. Diese Wähler wollen keine linke Partei. Allein schon diese Einsicht müsste die FDP dazu führen, sich zu repositionieren.

Sind Lindners Äußerungen nur eine Wahlkampfmasche?

Aber wird man ihr das abnehmen? Nachdem sie drei Jahre – wenn auch mit viel Streit – mit zwei linken Parteien koaliert hat? Oder halten die, die das Vertrauen verloren haben, Lindners Äußerungen nur für eine Wahlkampfmasche, die nach dem 23. Februar schnell wieder vergessen sein wird?

Wie gewinnt man Glaubwürdigkeit wieder? Das ist in der Politik nicht anders als im Privatleben. Glaubwürdigkeit beginnt mit einer ehrlichen und auch selbstkritischen Bestandsaufnahme. Beispiel Kernkraft: Heute tritt die FDP für Kernkraft ein, etwas, für das ich geworben habe, seitdem ich vor 30 Jahren in die Partei eingetreten bin.

Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die FDP zusammen mit Angela Merkel das – ursprünglich von SPD und Grünen beschlossene – Kernkraft-Aus bestätigt hat. Und dass sie zuletzt die Ampel nicht verlassen hat, als sie die Stilllegung der verbliebenen drei Kernkraftwerke beschlossen hat.

Keine Glaubwürdigkeit ohne Selbstkritik

Die FDP kritisiert heute scharf das Bürgergeld. Zu Recht. Aber sie hat es zusammen mit SPD, Grünen und CDU/CSU beschlossen. Die FDP kritisiert heute das Verbrenner-Verbot, hat ihm aber zugestimmt unter der Voraussetzung, dass E-Fuels erlaubt werden. Sie kritisiert das Heizungsgesetz, hat es seinerzeit aber nicht gewagt, es scheitern zu lassen und damit die Ampel zum Platzen zu bringen.

Bei all diesen Themen hat es die FDP dabei bewenden lassen, grundfalsche Gesetze oder Entscheidungen ein wenig abzumildern. Die Liste ließe sich fortführen. Das sind Entscheidungen, die ihr jene Menschen übel nehmen, die heute CDU/CSU und AfD wählen.

FDP hat vor allem junge Leute an die AfD verloren

Leider hat die FDP vor allem junge Leute verloren, denen sie als Gegenpol zu den Grünen gefallen hatte, die aber jetzt zur AfD abgewandert sind. Das hätte nicht sein müssen. Man mag einwenden, das seien alles vergangene Entwicklungen und es lohne sich nicht, heute darüber zu sprechen.

Ich werde immer skeptisch, wenn Politiker sagen, man solle nicht so viel über die Vergangenheit sprechen, sondern mehr über die Zukunft. Das ist zwar grundsätzlich richtig, wird aber meist gerade dann gesagt, wenn Politiker einiges falsch gemacht haben, über das sie ungern reden.

Die FDP muss aber darüber reden, wenn sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will. „Mehr Milei wagen“ könnte eine großartige Perspektive sein, aber es gibt viele in der FDP, die genau das nicht wollen, beispielsweise Agnes Strack-Zimmermann, Konstantin Kuhle oder die Vorsitzende der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann.

FDP-Politikerin wechselt die Partei

FDP-Politikern, die für einen klassisch-liberalen Ansatz stehen, wie etwa Linda Teuteberg oder Katja Adel, hat die Partei in letzter Zeit übel mitgespielt. Anna Elisabeth von Treuenfels, die einzige Angeordnete der FDP in der Hamburger Bürgerschaft, hat aus Frustration über zu viele Zugeständnisse an Grüne und SPD kürzlich die Partei verlassen und kämpft jetzt in der CDU für ihre Überzeugungen.

Auch Frank Schäffler, der großartig gegen das Heizungsgesetz gekämpft hatte und seit vielen Jahren für klassisch-liberale Positionen ficht, spielt nicht die Rolle in der Partei, die er spielen sollte, wenn man „mehr Milei wagen“ ernst meint.

Und Bijan Djir-Sarai, von dem ich weiß, dass er vieles bei Milei sehr positiv sieht, musste wegen der lächerlichen D-Day-Papier-Affäre gar als Generalsekretär zurücktreten. Gefordert wurde der Rücktritt zuerst von dem linken Flügel, dem er sowieso ein Dorn im Auge war. Und Thomas Kemmerich verweigerte die Partei sogar die finanzielle Unterstützung im Wahlkampf in Thüringen. Ein gutes Zeichen war allerdings, dass Lindner und Kemmerich nach der Wahl das Kriegsbeil begraben haben.

Grundsatzentscheidung für die Liberalen

Die FDP steht vor einer Grundsatzentscheidung: Will sie „grüner“ und „sozialer“ werden – dann ist sie überflüssig, denn linke Parteien gibt es schon genug in Deutschland. Oder will sie für klassisch-liberale oder auch libertäre Positionen stehen?

Von Milei, den 55 Prozent der Argentinier gewählt haben, zu lernen, wäre jedenfalls keine schlechte Idee für eine Partei, die derzeit an der 5-Prozent-Hürde kämpft.

Jedenfalls würde eine klassisch-liberale Partei in Deutschland dringend gebraucht, von mir aus gerne auch in der Opposition. Denn eine Koalition von CDU/CSU mit SPD oder Grünen wird das Ruder bestimmt nicht herumwerfen. Und eine laute, liberale Gegenstimme, die radikal für mehr wirtschaftliche und geistige Freiheit ficht, wäre dann dringlicher denn je.