"Netanjahu ist außer Kontrolle" - Der ausgeklügelte Plan hinter Israels brutaler Nahost-Offensive

Israel weitet seine Kriegsziele im Libanon aus. Eine Waffenruhe komme nur infrage, wenn die Hisbollah-Miliz entwaffnet werde, erklärte Außenminister Israel Katz am Montag. Bisher hatte Israel lediglich den Rückzug der Miliz aus dem israelisch-libanesischen Grenzgebiet verlangt.

Die Erklärung des Ministers und neue Angriffe der israelischen Luftwaffe im Libanon und im Jemen deuten an, dass Israel mit dem Mehrfrontenkrieg die Machtstrukturen im Nahen Osten auf Dauer zu seinen Gunsten neu ordnen will. Von einem Ende des Gaza-Krieges, mit dem die Eskalation vor knapp einem Jahr begann, ist keine Rede mehr.

ANZEIGE

Die israelische Luftwaffe griff in der Nacht zum Montag erstmals seit fast 20 Jahren im Zentrum der libanesischen Hauptstadt Beirut an. Dabei starben drei Mitglieder der Volksfront für die Befreiung Palästinas, die wie die Hamas vom Iran unterstützt wird. Mit einem anderen Luftschlag im Süden Libanons tötete Israel den Libanon-Chef der Hamas, Fateh Scherif Abu el-Amin.

Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant deutete am Montag den baldigen Beginn einer Bodenoffensive im Libanon an. „Israel fühlt sich unbesiegbar“, kommentierte der katarische Sender Al-Dschasira.

ANZEIGE

Medienberichten zufolge haben kleinere israelische Spezialeinheiten zum Wochenbeginn bereits vereinzelt Angriffe im Süden des Landes durchgeführt. Das „Wall Street Journal“ meldete unter Berufung auf Militärkreise, dass die Einheiten im Südlibanon Sicherheitsinformationen sammeln.

ANZEIGE
ANZEIGE

Das Auswärtige Amt hat zudem die Krisenstufe im Land angehoben und am Montag eine sogenannte diplomatische Abholung eingeleitet. Ausgeflogen werden Familienangehörige der Botschaftsbeschäftigten sowie nicht dringend benötigtes Personal.

ANZEIGE

Seit Mitte September haben israelische Luftangriffe im Libanon mehr als 1000 Menschen getötet. Die Hisbollah verlor ihren Anführer Hassan Nasrallah, mehr als ein Dutzend ranghohe Kommandeure und einen Teil ihres Waffenarsenals.

Am Wochenende bombardierten israelische Jets zudem die Hafenstadt Hodeida im Jemen, um Raketen- und Drohnenangriffe der ebenfalls pro-iranischen Huthi-Rebellen in Israel zu rächen.

ANZEIGE

Auch die Gefechte in Gaza gehen weiter. Laut Al-Dschasira starben dort am Wochenende fast 30 Zivilisten bei Kämpfen zwischen israelischen Truppen und der Hamas, die den Konflikt mit ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres losgetreten hatte. Die monatelangen Bemühungen um eine Feuerpause in Gaza sind gescheitert.

Dabei liege ein Entwurf auf dem Tisch, der den Krieg innerhalb weniger Wochen beenden könne, sagt der israelische Hamas-Experte und frühere Geisel-Unterhändler Gershon Baskin.

ANZEIGE

Selbst in der Frage einer Nachkriegsordnung in Gaza gebe es Ansätze, sagte Baskin dem Tagesspiegel. Demnach solle für eine Übergangszeit eine „professionell-technokratische, unparteiische und nicht zur Hamas gehörende“ Regierung gebildet werden. Hamas sei damit einverstanden.

ANZEIGE

Israels Regierung hat nach Einschätzung von Baskin und anderen Experten aber kein Interesse an einem baldigen Ende der Kämpfe im Libanon oder in Gaza. Die Hisbollah – die bisher stärkste Miliz im Nahen Osten – ist nach Israels Angriffen so geschwächt, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Chance sieht, die Machtverhältnisse in der Region grundsätzlich zu verändern.

ANZEIGE

Nasrallahs Tod sei ein historischer Wendepunkt, der das Gleichgewicht der Kräfte im Nahen Osten verändern werde, sagte er.

Netanjahu meint vor allem den Dauerkonflikt zwischen Israel und dem Iran. Bisher diente die Hisbollah dem Iran als befreundete Streitmacht an Israels Grenze, deren militärische Stärke eine abschreckende Wirkung auf Israel haben sollte.

Bei einem israelischen Angriff auf den Iran sollten die Hisbollah und andere Gruppen der iranischen „Achse des Widerstands“ gegen Israel losschlagen.

ANZEIGE

Die Verluste der Hisbollah in den vergangenen Wochen haben diese iranische Strategie über den Haufen geworfen.

Die Doktrin der „Strategischen Geduld“ des iranischen Revolutionsführers Ajatollah Ali Chamenei – die Vermeidung einer direkten Konfrontation mit Israel durch den Einsatz pro-iranischer Gruppen wie der Hisbollah – sei im Libanon „geschreddert“ worden, sagt der Iran-Experte Arash Azizi von der Universität Boston.

ANZEIGE
ANZEIGE

„Der Iran ist in einer sehr schwierigen Lage“, sagt Azizi dem Tagesspiegel. „Wenn er Israel direkt angreift, riskiert er, dass ein Krieg ausbricht, den er sich nicht leisten kann. Wenn der Iran nichts tut, gibt er sich geschlagen – dann wird es schwer sein, das Gesicht zu wahren“. Azizi erwartet, dass sich Chamenei trotzdem gegen einen Angriff auf Israel entscheiden wird.

Israels Regierung dagegen sieht nach der Demütigung der Hisbollah möglicherweise die Zeit für eine Abrechnung mit Teheran gekommen. „Ein immer draufgängerisches Israel erwägt offenbar, im ganzen Nahen Osten die Konfrontation mit dem Iran zu suchen“, sagt Julien Barnes-Dacey von der europäischen Denkfabrik ECFR. Dahinter stecke das Ziel, „eine neue regionale Ordnung zu schaffen“, sagte Barnes-Dacey dem Tagesspiegel.

ANZEIGE

Präsident Isaac Herzog sagte vorige Woche im britischen Sender Sky News auf die Frage, ob Israel den Iran angreifen wolle, sein Land werde „alle Bedrohungen beseitigen, die für den Staat Israel existenziell sind“. Damit meinte er das iranische Atomprogramm; Israel fordert von den USA seit Jahren, das Programm militärisch zu stoppen.

Ob Netanjahu einen Angriff auf den Iran plane, sei nicht sicher, sagt der Nahost-Experte Joe Macaron von der US-Denkfabrik Wilson Center. „Fest steht, dass er die ‚Achse des Widerstands‘ gegen Israel eliminieren will“, sagte Macaron dem Tagesspiegel.

ANZEIGE

Dabei lasse sich der Premier auch nicht vom Partner USA stoppen: „Netanjahu ist außer Kontrolle“, fasst Macaron zusammen.

Von Thomas Seibert

Das Original zu diesem Beitrag "Neuordnung des Nahen Ostens?: Warum Israel jetzt militärisch Fakten schaffen will" stammt von Tagesspiegel.