„Deutschlands härtester Wahlkreis“ - er liegt mitten in NRW
Die Wahlbeteiligung war in einem Wahlkreis in NRW bei der letzten Bundestagswahl die niedrigste in ganz Deutschland. Davon könnten Extremisten profitieren.
Hamm/Duisburg – Die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 wühlt die Menschen auf. Jeder wird in seinem direkten Umfeld Menschen finden, die die Debatten der Politiker und Spitzenkandidaten mit Spannung verfolgen. Die Wahl ist Thema. In kaum einem Gespräch wird sie dieser Tage nicht zumindest mal am Rande erwähnt. Die Menschen setzen sich wieder stärker mit Politik auseinander. So ist zumindest der Eindruck. Ob das im „härtesten Wahlkreis Deutschlands“ wohl auch so ist? Bei der vergangenen Bundestagswahl war hier deutschlandweit die Wahlbeteiligung am niedrigsten – er befindet sich mitten in NRW.
„Bei der Bundestagswahl 2021 lag die Wahlbeteiligung im Wahlkreis Duisburg II bei 63,3 Prozent, so niedrig wie in keinem anderen Wahlkreis der Bundesrepublik Deutschland“, fasst das Statistik-Portal statista.com zusammen. Erschreckende Zahlen, die auf große Politikverdrossenheit im Duisburger Norden schließen lassen.
Woran das liegen könnte, das versucht Dr. Conrad Ziller herauszufinden. Ziller arbeitet als Akademischer Rat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsinteressen sind unter anderem Zuwanderung und Integration, politisches Vertrauen und sozialer Zusammenhalt. „Dass wir in einem Wahlkreis eine höhere Wahlbeteiligung als in einem anderen finden, hat vor allem etwas mit den Eigenschaften der Bewohnerinnen und Bewohnern zu tun“, erklärt er gegenüber wa.de. Je kleiner die Wahlbeteiligung, desto größer die Probleme in einem Viertel also?
Einkommen hängt häufig mit Wahlbeteiligung zusammen
„Die Wahlforschung belegt, dass der sozio-ökonomische Status einen wichtigen Einfluss darauf hat, ob jemand wählen geht oder nicht“, meint Dr. Ziller. Wer ein hohes Einkommen bezieht, hat häufig eine gute Ausbildung genossen und ist gebildet – die Hemmschwelle, sich mit komplexen politischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, ist dadurch wesentlich niedriger. Diese Menschen seien laut Dr. Ziller „eher politisch interessiert und engagiert“. Hinzu kommt eine weitere Komponente: „Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen und guten Jobs haben oft auch ein soziales Umfeld, in dem viele wählen gehen – das erhöht den sozialen Druck, selber wählen zu gehen.“
Wahlbeteiligung verbessern
„Das Wählengehen sollte möglichst einfach organisiert und inklusiv sein“, sagt Dr. Conrad Ziller von der Universität Duisburg-Essen. „Die Briefwahl ist hierbei ein gutes Mittel, auch wenn der vorgezogene Wahltermin dafür schon eine logistische Herausforderung ist“, meint er. Initiativen wie der Wahl-O-Mat würden zudem eine effiziente Möglichkeit darstellen, sich über die Positionen der Parteien zu informieren. „Gleichzeitig sollten gezielte Desinformation bekämpft werden, was gar nicht so leicht im Zeitalter sozialer Medien und ausländischer Einflussnahme ist. Faktenchecks und Aufklärungskampagnen sind hier wichtig“, erklärt der Politikwissenschaftler und verrät noch, was jeder einzelne tun kann: „Wir wissen aus Studien, dass Menschen eher wählen gehen, wenn ihr Freundes- und Familienkreis dies tut. Menschen im Umfeld zu sagen, dass man wählen geht und es wichtig ist, dass möglichst viele zur Wahl gehen, ist hier ein wichtiger Schritt.“
Im „härtesten Wahlkreis Deutschlands“, dem unlängst der WDR einen eigenen TV-Beitrag widmete, ist genau das nicht der Fall. Der Duisburger Norden kämpft – wie andere Großstädte in NRW ebenfalls – mit Strukturproblemen. „Kriminalität und Armut sind vergleichsweise hoch, es gibt Konflikte zwischen zugezogenen EU-Ausländern aus Rumänien und Bulgarien und anderen Bewohnerinnen und Bewohnern, die Zukunftsperspektiven vieler sind mau“, sagt Dr. Ziller.
Meine News
Vielschichtige Gründe, ob jemand wählen geht oder nicht
Die Gründe, ob nun jemand wählen geht oder nicht, sind allerdings vielschichtiger. In NRW gibt einige Regionen mit höherer Arbeitslosigkeit und dementsprechend niedrigerer Kaufkraft. Der komplette Rückzug aus dem Steinkohlebergbau und der Rückgang der Stahlindustrie sorgt (noch immer) besonders im Ruhrgebiet mit seinen Großstädten und Ballungsräumen für Probleme. „Gleichzeitig spielen auch die Intensität und Art der Wahlkampagnen sowie die Mobilisierung durch Parteien eine Rolle“, gibt Dr. Ziller zu bedenken. Hier also „den einen kausalen Faktor für niedrige Wahlbeteiligung“ auszumachen, sei nicht möglich.

Die Menschen im Wahlkreis Duisburg II jedenfalls, auch das geht aus dem erwähnten TV-Beitrag mit zahlreichen O-Tönen von vor Ort hervor, fühlen sich „abgehängt“. Mit schwerwiegenden politischen Folgen. „Die Perspektivlosigkeit zeigt sich auch bei den Wahlergebnissen“, meint Dr. Ziller von der Universität Duisburg-Essen.
Duisburg II habe nicht nur eine geringe Wahlbeteiligung, sondern hatte bei der Europawahl 2024 einen – für einen westdeutschen städtischen Wahlkreis – besonders hohen AfD-Anteil. Möglicherweise eine Folge der eben beschriebenen Gefühle der Wählerinnen und Wähler. „Das führt zu Politikverdrossenheit und/oder Protestwahl – sie gehen gar nicht mehr wählen oder wählen Parteien der extremen Ränder“, sagt Dr. Ziller. Die extremen Ränder könnten nun aufgrund der politischen Lage im Land noch mehr Zuwachs gewinnen – einhergehend allerdings mit einer möglicherweise höheren Wahlbeteiligung als noch bei der vergangenen Bundestagswahl.
Bundestagswahl am 23. Februar 2025: „Wir befinden uns aktuell in einer Sondersituation“
„Wir befinden uns aktuell in einer Sondersituation“, weiß Politikwissenschaftler Dr. Ziller. Der Streit der Ampelregierung und das vorzeitige Aus der Regierungskoalition habe viele Menschen mit einem Gefühl der Enttäuschung und Verärgerung zurückgelassen. „Die Anschläge von Magdeburg, Aschaffenburg und München haben die Menschen im Land verunsichert, der Fokus auf das Thema Migration hat den Wahlkampf stark emotionalisiert“, sagt er. Auch trage das Erstarken „der in weiten Teilen rechtsextremen AfD“ dazu bei, dass viele mit Sorge auf die Wahl blicken. Seine Schlussfolgerung: „Ich denke, dass all dies zu einer Zunahme der Wahlbeteiligung beitragen wird.“
Für die Demokratie schlecht wäre das nicht, ist eine hohe Wahlbeteiligung doch die beste Stütze für dieses politische Gebilde. „Eine hohe Wahlbeteiligung ist essenziell für eine stabile Demokratie“, bestätigt Dr. Ziller. So hätten die gewählten Regierungen eine breite Legitimation und politische Entscheidungen spiegelten die Interessen möglichst großer Teile der Bevölkerung wider. Der Politikwissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen ergänzt: „Da extremistische Parteien oftmals eine bereits hoch mobilisierte Wählergruppe haben, schränkt eine hohe Wahlbeteiligung tendenziell den Einfluss der Extremisten ein.“ Vielleicht dieses Mal auch im „härtesten Wahlkreis Deutschlands“.