Ausland - Kommt es in Russland zu einer neuen Mobilmachung?

Laut Gesetz soll eine Person bei einer etwa zweimonatigen Wehrübung eine militärische Ausbildung durchlaufen sowie die Bedienung von Waffen und Ausrüstung trainieren. Vor dem Krieg gegen die Ukraine hatten solche Übungen nur einen formalen Charakter. 

Obwohl sie Pflicht waren, nahmen aber nur wenige Menschen an ihnen teil. Denn wer sie ignorierte, musste nur mit einer Geldstrafe von 500 Rubel (umgerechnet fünf Euro) rechnen.

"Vor einer ärztlichen Untersuchung im Einberufungsamt kann man bedenkenlos ausreisen"

Seit 2022 werden das ganze Jahr über Wehrübungen durchgeführt, sagt Artjom Klyga, Anwalt der Bewegung russischer Wehrdienstverweigerer. "Eigentlich kann man sagen, dass die im Mai letzten Jahres angeordnete Wehrübung noch anhält", sagt er im Gespräch mit der DW. Dies könnte mit dem "Bedarf an Menschen" angesichts der "zunehmenden Erschöpfung der russischen Armee" zusammenhängen. 

Eine Wehrübung sei eine zusätzliche Möglichkeit, so Klyga, Soldaten für den Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen. Denn bei einer Übung sei es einfacher, "jemanden durch Isolierung, Täuschung oder gar Drohungen zur Unterzeichnung eines Vertrags zu zwingen".

Klyga zufolge dienen die Übungen auch dazu, höhere Dienstgrade zu vergeben und die Spezialisierungen der Männer zu verbessern, was eine präzisere Planung einer Mobilmachung erlaube. Ferner würden Russen zu einem "Datenabgleich" in die Einberufungsämter gelockt. Klyga sagt, Reservisten können strafrechtlich belangt werden, wenn sie zu einer Übung erscheinen und diese dann einfach verlassen.

"Vor einer ärztlichen Untersuchung im Einberufungsamt kann man bedenkenlos ausreisen", betont er und sagt, dass es noch kein Ausreiseverbot gibt, es aber kommen könnte, wenn das im Aufbau befindliche digitale Zentralregister für die Rekrutierung voll funktionsfähig sein wird.

In den geheimen Bestimmungen seien üblicherweise die Zahl der Dienstpflichtigen und die geplanten Aufgaben in den Regionen angegeben, sagt der ehemalige Abgeordnete der Moskauer Stadtduma, Jewgenij Stupin. Mittels dieser Informationen könne man die Ziele und Vorgaben des russischen Verteidigungsministeriums erkennen.

Stupin warnt davor, den Beteuerungen der russischen Behörden zu trauen, wonach laut Gesetz niemand von einer Übung in den Krieg geschickt werden darf. Der Politiker weist auf eine Formulierung im Erlass hin, die den Dienst von Reservisten in der Nationalgarde und beim Inlandsgeheimdienst FSB ermöglicht. "Ich möchte daran erinnern, dass die Nationalgarde in den von der russischen Armee besetzten Gebieten der Ukraine eine Ordnungskraft ist und dass FSB-Leute die Grenzen bewachen und in den Regionen Kursk und Belgorod oft in Kämpfe mit den ukrainischen Streitkräften verwickelt sind", sagt er.

Auch Artjom Klyga weist darauf hin, dass Reservisten zum Dienst oder zur Ausbildung zur Nationalgarde oder zum FSB sowohl in die Regionen Kursk und Belgorod als auch in die von Russland besetzten Gebiete geschickt werden könnten. "Das Gesetz verbietet das nicht, es gibt keine rechtlichen Hürden, aber wir haben noch nichts dergleichen registriert", so der Menschenrechtler.

Etwa 1000 Mann melden sich wohl täglich freiwillig bei Einberufungsämtern

Auch die Bewegung "Idite Lesom" (Geht durch den Wald), eine in Georgien ansässige Organisation, die Deserteuren aus Russland hilft, sagt der DW, sie habe noch nicht erlebt, dass Menschen von Wehrübungen in den Krieg geschickt worden seien. Doch sie rät dazu, dies nicht am eigenen Leibe auszuprobieren. "Es ist besser, eine solche Vorladung zu ignorieren", meint die Organisation.

Die russischen Behörden betonen, eine neue Mobilmachung sei nicht geplant, die Aufstockung der russischen Armee erfolge zwanglos. Etwa 1000 Mann würden sich täglich freiwillig bei den Einberufungsämtern melden und einen Vertrag unterschreiben, sagte Andrej Kartapolow, Mitglied des Verteidigungsausschusses der Staatsduma, der russischen Agentur TASS. Er betonte dabei, die russische Armee würde "täglich an Dutzenden Frontabschnitten vorrücken".

Tatsächlich rücke das russische Militär in der Ostukraine vor, doch die Intensität lasse nach, sagt Ruslan Leviev, Gründer der unabhängigen Ermittlungsorganisation Conflict Intelligence Team, im Gespräch mit der DW. Der oppositionelle Aktivist erklärt, dass die russische Armee zwar in der Lage sei, ihre Reihen mit Soldaten aufzufüllen, den Mangel an Offizieren jedoch nicht einfach ausgleichen könne.

"Deshalb beschleunigt Putin die Rekrutierung von Zeitsoldaten, lässt die Mobilisierten nicht gehen und greift auch auf Reservisten zurück"

Gleichzeitig werden in der Staatsduma Stimmen laut, die dazu aufrufen, sich auf einen Krieg gegen den "kollektiven Westen" vorzubereiten. Dazu würde es kommen, wie der erste stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Staatsduma, Alexej Schurawljow gegenüber dem russischen Portal "absatz.media" sagte, wenn westliche Länder in den Krieg eintreten würden. Schurawljow findet, Russland müsse seine Mobilisierungsreserven auffüllen und sich auf eine solche Situation einstellen.

Die jetzigen Übungen sind nach Ansicht des Moskauer Ex-Abgeordneten Jewgenij Stupin aber kein Signal an den Westen. Er geht vielmehr davon aus, dass Wladimir Putin versucht, schnelle Ergebnisse an der Front zu erzielen. "Deshalb beschleunigt er die Rekrutierung von Zeitsoldaten, lässt die Mobilisierten nicht gehen und greift auch auf Reservisten zurück", so Stupin.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Von Alexey Strelnikov