Menschen mit Autismus - Deutschland klagt über fehlende Fachkräfte, aber eine Gruppe wird komplett übersehen

Von einem „gewissen Grundverständnis“, das für Unternehmen notwendig sei, um die Inklusion der autistischen IT-Spezialisten erfolgreich zu machen, spricht man bei Auticon.

Marcus Greiner hat im Moment einen Teamleiter, der selbst Autist ist. Das ist möglicherweise ein besonderes Plus. Aber auch die anderen Organisationen, die mit dem IT-Dienstleister zusammenarbeiten, haben sich intensiv mit den gängigen Klischees über Autisten auseinandergesetzt.

„Die Betroffenen haben Inselbegabungen, sind oft hochbegabt, IT-Nerds oder sogar Superhirne, so genannte Savants – das ist das eine verbreitete Vorurteil. Autismus ist eine Behinderung, Betroffene sind geistig zurückgeblieben – das ist das andere“, sagt Greiner spürbar genervt. „Dazwischen scheint es nichts zu geben.“

„Smalltalk ist mir unangenehm und stresst“

Dabei ist die Wirklichkeit nicht schwarz oder weiß, die Wirklichkeit ist komplex. „Ich tue mich schwer mit nonverbalen Signalen. Smalltalk ist mir unangenehm und stresst“, so der 51-Jährige. Wegen einer so genannten Reizfilterschwäche trägt er in der Bahn ANC-Kopfhörer. Anders hält er die Geräuschkulisse oft kaum aus.

Neben diesen Einschränkungen gibt es aber auch Dinge, die der IT-Experte besonders gut kann. Projekte organisieren etwa. Komplexe Abläufe überblicken, penibel planen und Sachverhalte für andere verständlich und nachvollziehbar dokumentieren. Generell ist das Planen ein großes Thema. Seine Pünktlichkeit, Detailverliebtheit und Akribie sind Pluspunkte im Beruf.

Aber das Bedürfnis nach Planungssicherheit kann auch zum Minus werden. Wie bei seinem vorletzten Arbeitgeber, für den er auf Dienstreise nach Erfurt fuhr, mehrere hundert Kilometer. Während der gesamten Anfahrt überlegte er sich, wie er das am Zielort mit dem Auto machen sollte. Sollte er es am Hotel parken? Oder besser vor der Arbeitsstelle? Und wie würde er am anderen Tag zum Hotel zurückkommen. Zu Fuß? Mit einem Kollegen? Aber wie wäre er dann drauf? Wäre ihm nach einem Fußmarsch zumute? Würde er sich nach der Arbeit noch mit einem Kollegen unterhalten? Oder bräuchte er eher Ruhe?

Untersuchung gab Autisten Klarheit

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt des Gedankenspiels. „Das ist ganz typisch für mich, dass ich solche Dinge im Geiste rauf und runter durchspiele und mir möglichst mehrere potenzielle Fluchtwege überlege“, sagt Greiner. Je mehr unbekannte Variablen eine Rolle spielen, desto anstrengender wird es.

Erfurt wurde letztlich zur kompletten Überforderung. Die fremde Umgebung, die unbekannten Abläufe, die unbekannten Menschen... Besonders stresste Marcus Greiner, dass es niemanden gab, dem er erklären konnte, was mit ihm los war. Immerhin: Mittlerweile kann wenigstens er selbst einigermaßen klar sehen. Viele Jahre lang war das anders.

Eigentlich hatte er vor fünf Jahren ja nur ein paar psychotherapeutische Sitzungen in Anspruch nehmen wollen, wegen eines drohenden Burn-Outs. Und dann dieser Verdacht. Der Therapeut vermutete das Asperger-Syndrom. Das Ergebnis nach einer vorübergehenden Unterbringung in der Uniklinik in Freiburg in den Händen zu halten, war „der Hammer“, sagt Marcus Greiner. „Plötzlich machte so vieles Sinn, plötzlich verstand ich, wieso ich so bin, wie ich bin.“

Außenstehende würden als Reaktion vielleicht Schock oder Trauer vermuten, der Baden-Württemberger spricht von einer großen Befreiung. Vor allem die Teilnahme an der Freiburger Autismus-spezifischen Therapie bei Erwachsenen (FASTER) hat ihm zur Selbstakzeptanz verholfen. Bis er von Auticon hörte und sich schließlich dort bewarb, sollte es allerdings noch dauern.

Firmen entgehen hochqualifizierte Mitarbeiter

„Besser spät als nie“, so sieht er es rückblickend. Ursula Schemm nickt. „Die Leidensgeschichten, die wir von Bewerbern zu hören bekommen, sind teils dramatisch.“

Schätzungen gehen davon aus, dass nur knapp 30 Prozent aller Autisten überhaupt einen Arbeitsplatz haben. Dazu kommt: Ein ganz großer Teil derjenigen, die tätig sind, steckt in Jobs, die überhaupt nicht ihren Qualifikationen entsprechen. Ursula Schemm treibt das sichtlich um. „Wir reden hier teilweise wirklich von hochqualifizierten Fachkräften“, sagt sie. „Von Menschen, die ausgegrenzt werden, weil es Unternehmen nicht schaffen, Bewerbungsprozesse entsprechend zuzuschneiden und weil es darüber hinaus eine riesige Unsicherheit im Umgang mit Autisten gibt.“

Kein Wunder, dass viele autistische Menschen teils große Brüche im Lebenslauf haben.

Viele haben trotz Abiturs auf ein Studium verzichtet, auch Greiner: „Schon der Gedanke an den Lärmpegel in einem Hörsaal hat mich abgehalten.“ Andere brachen ihre Ausbildungen ab, Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken sind häufig.

Nicht nur für autistische Menschen ist die Situation tragisch, sagt Ursula Schemm. Viele Unternehmen sei überhaupt nicht bewusst, was ihnen entgeht. „Da gibt es die tollsten Überlegungen, wie man Fachkräfte aus dem Ausland anlocken kann und hier, bei uns im eigenen Land, gibt es ein Potenzial, das man einfach nicht sehen will.“

Dabei können Organisationen nicht nur fachlich profitieren. „Dank euch haben wir an unseren Kommunikationsstrukturen gefeilt und wissen jetzt, wie wir die Teammeetings gestalten“. So und ähnlich lauten die Rückmeldungen neuer Kooperationspartner, sagt Schemm. Klar: Von einer strukturierteren Kommunikation profitiert jeder Mitarbeiter. Und ohne Strukturiertheit geht es nun mal nicht, wenn Menschen „aus dem Spektrum“ im Boot sind.

Niemand würde ihm komisch kommen

In vielem, was früher unkalkulierbar und damit angsteinflößend wirkte, hat Marcus Greiner jetzt Sicherheit. Seine Arbeitstage dauern sechs Stunden, nie deutlich länger, darauf kann er sich verlassen. Genauso darauf, dass es keine Massen-Meetings mehr geben wird. Wo immer es möglich ist, darf er remote arbeiten.

Aber selbst, wenn er die Kollegen „in echt“ sieht und sich eine Besprechung mal zieht, ist das in Ordnung. Er weiß ja: Im Zweifel kann er sagen, was Sache ist. Niemand würde ihm komisch kommen. Eher fragen die Kollegen, ob das oder jenes für ihn in Ordnung ist.

Mindestens einmal pro Woche besprechen sich die Auticon-Mitarbeitenden mit einem Job-Coach. Wo läuft es möglicherweise noch nicht rund? Was könnte besser gehen?

Und auch in die andere Richtung wird kommuniziert: Die Coaches helfen den Kunden, Missverständnisse zu entschlüsseln oder auch einfach, den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass der jeweilige Mitarbeiter sich wohl fühlt, wenn er vor Ort arbeitet. Das kann damit anfangen, dass grelle Neonlichter durch eine dimmbare Stehlampe ersetzt werden, Noise-Cancelling-Kopfhörer zur Verfügung gestellt werden oder der Arbeitstisch in eine ruhige Ecke gestellt wird.

“Ich bin endlich angekommen“

Natürlich gibt es auch Rückschläge, sagt Ursula Schemm. Und natürlich sei es auch schon vorgekommen, dass man sich von Kolleginnen und Kollegen trennen musste. Das sei wie bei anderen Unternehmen auch.

Der weitaus häufigere Fall sei aber der, dass Probleme gemeinsam mit den Kunden gelöst werden, die meistens sehr engagiert und offen sind. Sie wollen die Inklusion. Und sie wollen, dass der Autist sich bei ihnen wohlfühlt und sein volles Potenzial entfalten kann.

Für Marcus Greiner ist die Sache klar. Dank Auticon hat er sein Hobby zum Beruf machen können. „Ich will hier gerne bis zur Rente bleiben und hoffe, dass das geht.“ Privat sei er jetzt viel entspannter. Mehr im Hier und Jetzt. Dauergrübel-Situationen wie seinerzeit in Erfurt hat er jedenfalls schon lange nicht mehr erlebt.

„Ich habe jetzt eine Lebensqualität, die ich so vorher nicht kannte. Ich bin endlich angekommen.“