Wenn irgendwo ein Anschlag passiert, reagieren wir mit Betroffenheit. Wenn jedoch ein Weihnachtsmarkt betroffen ist, trifft es uns an einem sensiblen Punkt. Weihnachtsmärkte stehen nicht einfach für Konsum. Sie stehen für Kindheitserinnerungen, Nähe, Familie, Lichter, Musik und warme Gespräche mit kalten Fingern.
Warum uns die Angst auf Weihnachtsmärkte zu gehen besonders trifft
Weihnachtsmärkte sind ein emotionaler Ort. Und wenn ein emotionaler Ort beschädigt wird, fühlt es sich persönlicher an. Psychologen nennen das: „affektive Risikowahrnehmung.“ Wir haben längst akzeptiert, dass Bahnhöfe, Flughäfen oder Großkonzerte ein mögliches Angriffsziel sein könnten. Aber Glühweinstände? Krippenfiguren? Ein Ort, an dem Kinder Karussell fahren und Erwachsene vergessen, dass Excel existiert?
Das schmerzt doppelt. Nicht nur, weil Menschen verletzt werden – sondern weil ein Ort der Geborgenheit seine Unschuld verliert.
Vereinzelte Ereignisse verändern unser Verhalten
Ein Anschlag ist ein Ausnahmeereignis. Statistisch selten. Tragisch, aber nicht systematisch. Und trotzdem reicht ein einziges Bild in den Nachrichten und plötzlich wird aus einem Ort voller Freude ein Ort voller Fragezeichen.
Dafür gibt es einen einfachen Mechanismus: Unser Gehirn verwechselt gelegentlich Kausalität und Korrelation. Auf gut Deutsch: „Es ist passiert“ wird innerlich zu „Also könnte es jederzeit wieder passieren.“ Dieses Muster kennen viele aus ihrem Alltag:
- Ein Hund beißt – und plötzlich wirken alle Hunde gefährlich.
- Eine vergeigte Präsentation – und plötzlich erscheint jeder Vortrag wie eine Bedrohung.
- Eine Lebensmittelvergiftung – und Joghurt wirkt verdächtig.
Wir speichern nicht Statistik ab, sondern Gefühle. Diese sind nicht logisch, sondern laut und beeinflussen mehr als uns lieb ist..
Zweischneidiges Schwert für unser Sicherheitsgefühl
Die nüchternen Zahlen sagen: Die Wahrscheinlichkeit, auf einem Weihnachtsmarkt Opfer eines Anschlags zu werden, ist äußerst gering. Trotzdem fühlt sich die Angst real an – weil sie sichtbar wird: Polizei, Sperrungen, Betonbarrieren.
Für unser Sicherheitsgefühl ist das ein zweischneidiges Schwert. Es beruhigt – und erzeugt gleichzeitig das Gefühl: „Wenn so viel Sicherheit nötig ist, muss es gefährlich sein.“
Menschlich gesehen ist das normal. Unser Gehirn bewertet nicht nur Risiken, sondern auch Atmosphäre. Es ist ein Unterschied, ob ich an einer Absperrung vorbeigehe oder an einem großen, unauffälligen Konzept, das bewusst nicht dramatisiert wird. Welche Ängste haben Veranstalter, Beschicker und Städte? Die öffentliche Diskussion dreht sich oft um Besucherängste. Aber wirtschaftlich und organisatorisch hängt weit mehr daran.
- Veranstalter fürchten Imageschäden, Haftungsrisiken und Rückgänge bei Besucherzahlen.
- Marktbeschicker kämpfen mit steigenden Standkosten, Sicherheitsanforderungen und der Frage: „Lohnt sich das überhaupt noch?“ Ein leerer Platz ist für sie existenziell.
- Städte und Gemeinden stehen zwischen den Fronten: Sicherheit gewährleisten, aber keine Festung bauen.
Ihr größter Albtraum: Ein Fehler, der sichtbar wird. Alle haben also Sorgen – aber aus unterschiedlichen Perspektiven. Wenn zu viele Menschen wegbleiben, wird die Angst wirtschaftlich. Dann stirbt Tradition nicht aus Sicherheitsgründen – sondern aus Vorsicht.
Die Lösung: Beruhigen statt verunsichern
Sicherheit muss sein – aber sie muss sich nicht wie ein Stacheldraht anfühlen. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Weihnachtsmarkt, der aussieht wie ein abgesperrtes Industriegebiet, und einem, der klug geschützt ist, ohne seine Magie zu verlieren. Viele Städte arbeiten bereits mit Lösungen, die funktional sind – aber nicht schreien: „Gefahr!“
Zum Beispiel Poller, die als Geschenkpakete, Holzpfosten oder Weihnachtsbäume getarnt sind. Der Zweck bleibt: Sie verhindern Zufahrten. Aber optisch sagen sie: „Willkommen – nicht Vorsicht!“ Auch Sicherheitskräfte verändern sich. Es macht einen Riesenunterschied, ob Uniformierte mit Hand am Holster patrouillieren – oder ob sie sichtbar, aber nahbar auftreten. Lächeln, kurze Gespräche, Präsenz ohne Härte: Das beruhigt, statt zu verunsichern.
Sicherheit ist eine Frage der Wirkung
Kommunikation spielt ebenfalls eine Rolle. Man muss nicht bei jedem Eingang ein Megaphon aufstellen oder Besucher mit Hinweistafeln bombardieren. Ein klarer Satz reicht oft: „Wir haben ein umfassendes Sicherheitskonzept – genießen Sie Ihren Besuch.“ So entsteht ein Gefühl von Kontrolle, ohne dass Menschen in einen emotionalen Fluchtmodus schalten.
Ein Beispiel aus einem anderen Bereich zeigt das gut: Wenn Piloten im Flugzeug ruhig erklären, warum etwas ruckelt, fühlt sich der Flug sicherer an. Wenn sie hektisch technische Begriffe in einer nervösen Tonlage benutzen – steigt der Puls. Sicherheit ist also nicht nur eine Frage der Maßnahmen, sondern auch ihrer Wirkung.
Dabei gilt:
- sichtbar, aber freundlich statt martialisch
- informativ, aber unaufgeregt statt dramatisch
- präventiv, aber zurückhaltend statt einschüchternd
Sicherheit funktioniert am besten, wenn sie sich anfühlt wie ein Schutzengel – nicht wie ein Kontrollturm.
Warum es ein Fehler wäre, Weihnachtsmärkten fernzubleiben
Weihnachtsmärkte sind mehr als Buden und Beleuchtung. Sie sind ein kulturelles Gemeinschaftsritual. Ein Ort, an dem wir für ein paar Stunden glauben dürfen, dass die Welt warm und friedlich sein kann – trotz allem, was sonst passiert.
Wenn wir aus Angst wegbleiben, verlieren wir mehr als Umsatz oder Tradition. Wir verlieren ein Stück Normalität. Das wäre – ohne Pathos, aber mit Klarheit gesagt – ein psychologischer Sieg für genau die Kräfte, die uns einschüchtern wollen.
Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Mut bedeutet, trotzdem hinzugehen. Weihnachtsmärkte sind Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Und dieses Gedächtnis verdient Schutz – nicht durch Angstvermeidung, sondern durch bewusste Präsenz.
Vielleicht schmeckt der erste Glühwein dieses Jahr anders. Aber vielleicht schmeckt er auch nach etwas Wertvollem: Selbstbestimmung. Normalität. Mit dem Mut, das Leben zu leben.
Christoph Maria Michalski, bekannt als „Der Konfliktnavigator“, ist ein angesehener Streit- und Führungsexperte. Mit klarem Blick auf Lösungen, ordnet er gesellschaftliche, politische und persönliche Konflikte verständlich ein. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.